• Über mich

urnentrger.com

  • Einundzwanzig

    Mai 10th, 2024

    Es ist noch früh, als Krochowski aus seiner Küchentür tritt. Auf der Straße vor dem Wald liegt der Morgennebel, aber bei Uschi brennt schon Licht. Seit Michael Wildner an einem ganz banalen Herzinfarkt gestorben ist, ist bei Uschi eigentlich immer das Licht an. Heute aber ist das ganze Dorf früh auf, denn heute wird der beliebte Michael Wildner zu Grabe getragen, und Krochowski wird dabei sein. Als Freund, aber vor allem als Urnenträger. Als feststand, dass der große, schwere Mann, geschrumpft auf ein Häufchen Asche, in einer schwarzglänzenden Lackurne beerdigt werden wird, hat Krochowski sich bei Herrn Steiner um die Aufgabe beworben, die Urne zu tragen. Er wird sie in der kleinen Friedhofskapelle auf das Samtpodest stellen und er wird seinen Freund mit behandschuhten Händen zum Grab tragen. Krochowski schluckt bei dem Gedanken, dass er Michael Wildner nie hätte anheben können, als er noch lebte. Nun ist er klein und leicht, und ihn zum Grab zu tragen, wird Krochowskis letzter Akt der nachbarschaftlichen Freundschaft sein.
    Uschi winkt aus dem Küchenfenster, sie ist schon schick angezogen, auf ihrem schwarzen Blazer sind Nieten und Glitzersteine aufgenäht.

    Im Institut sind Herr Steiner und Janko geschäftig. Das schwarze Kondolenzbuch, die Urne mit Michael Wildners Asche und schwarze Handschuhe liegen im Arbeitsraum bereit. Krochowski holt seinen Anzug aus dem Schrank, die guten Schuhe streift er am Ende über seine dunklen Socken. An einer Socke hat er ein Loch und er weiß, dass sein dicker Nachbar darüber gelacht und ihn aufgezogen hätte. Als Krochowski umgezogen ist, kommt Herr Steiner in den Arbeitsraum und guckt fragend, dann klatscht er geschäftig in die Hände. „Auf, Herr Krocharski, wir fahren zum Friedhof.“ Im Auto gehen sie den Ablauf der Beerdigung noch mal durch. Es wird sehr voll in der Kapelle sein, man wird eventuell die Türen offen lassen und auch die Lautsprecher nach draußen stellen, damit alle die kleine Andacht hören können. Das Kondolenzbuch wird etwas abseits der Kappelle ausgelegt werden, da gibt es eine kleine Plattform. Wenn die Sonne den Nebel geschmolzen hat, wird es ein guter Tag für ein Begräbnis, findet Janko.

    Die drei Männer parken das Auto auf der Zufahrt zum Lüchower Stadtfriedhof und kaum sind sie ausgestiegen, beginnt der Taumel. Schnell ist alles für die Beerdigung vorbereitet, und kaum, dass die Urne auf ihrem schönen Samtplatz steht, kommen schon die ersten Gäste. Alle reden gedämpft, aber doch hört Krochowski hier und da ein Lachen. Sein Nachbar Michael Wildner war beliebt für seine Witze, er freut sich, dass auch jetzt Nachbarn und Freunde daran zurückdenken.

    Und dann geht es los. Die Trauerrednerin erzählt von Michael Wildners Leben, von seiner Liebe zu Uschi, zum Fußball, zum Dorf. Von seiner Vorliebe für Bratwürste, bei denen die Haut geplatzt ist, von seinem ordentlichen Garten. Ganz vorn sitzt Uschi und sieht irgendwie schief aus. Ganz blass und als wäre sie in der Mitte kaputtgegangen. Sie weint nicht, und Krochowski hat Angst, dass deshalb er in Tränen ausbrechen muss. Aber er hält sich, er hat eine Aufgabe. Als alle fertig geredet und gesungen haben, ist es an der Zeit. Herr Steiner nickt ihm würdevoll zu und dann steht Krochowski auf und geht mit langen Schritten zu seinem Freund in der Urne. Seine Absätze klacken auf dem kalten Kapellenboden. Er stellt sich hinter die Urne, dann hebt er das Lackgefäß vorsichtig an. Er trägt es durch den Kapellengang, vorbei an Freunden und Nachbarn. Krochowski hebt nur selten den Blick, und wenn, schaut er in traurige, ernste Gesichter. Er setzt Schritt vor Schritt und ihm ist etwas schwindelig. Aber als er aus der Kappelle tritt, scheint die Sonne und der Weg zum Grab ist nicht weit. Dort stellt er die Urne auf eine kleine Holzsäule und klopft erleichtert ganz leicht mit der rechten Hand an die Urnenwand. „Haben wir geschafft, Meister“, murmelt er und tritt dann rückwärts einige Schritte zurück.

    Der Rest ist wie ein Schwarzweißfilm. Der Pastor, der tröstend spricht, Uschi, die nun doch weint. Das Loch, in dem die Urne verschwindet, der sich lehrende Platz. Im Institut ist die Stimmung erleichtert, Herr Steiner ist sehr zufrieden und lobt Krochowski für seine Arbeit. „Aber beim nächsten Mal verzichten Sie vielleicht darauf, die Urne zu klapsen, lieber Herr Krawauski!“ Krochowski fährt nach Hause. Sein kleines altes rotes Auto schnurrt durch den Nachmittag durch Wiesen und das Dorf. Dann hält er vor seinem Haus. Uschi ist noch beim Leichenschmaus, aber Krochowski hat keine Lust. Er schließt seine Küchentür auf, geht zum Kühlschrank und greift sich eine Bierdose. Dann setzt er sich auf seine Treppe und öffnet zischend den Dosenverschluss. Der Kater kommt angeschnürt und hockt sich neben ihn. Ein erster Schluck, dann kommen zwei Tränen. Sie laufen langsam Krochowskis faltige Wangen hinunter, er wischt sie nicht weg.

  • Zwanzig

    April 3rd, 2024

    „Bitte halten Sie den Kopf ein wenig schräg!“ Nadeshda sitzt auf einen Hocker, hinter ihr spannt sich eine graue Leinwand. Ihren Rücken hat sie durchgedrückt und sie spürt, wie sich unter ihren Achseln langsam die Nässe ausbreitet. Unbehaglich und mit steifem Hals legt sie den Kopf etwas zur Seite. Es klickt leise und die Fotografin blickt prüfend auf ihren Bildschirm. Dann schaut sie Nadeshda lächelnd an und sagt: „Warum versuchen Sie denn nicht mal ein Lächeln?“

    Warum muss sie jetzt lächeln? Nadeshdas Gedanken gleiten ab. Sie hat sich schon oft gefragt, warum Frauen so oft lächeln. Selbst, wenn Tante Sonja etwas unfreundliches oder gemeines sagt, lächelt sie. Wenn die Nachbarin von Tolstes Bauernhof auf einen Plausch stehen bleibt, schickt sie nach jedem Satz ein Lachen in die Luft. Fast entschuldigend klingt das, und Nadeshda findet es schrecklich irritierend. Sie kann nicht so oft lachen. Nur, wenn etwas wirklich lustig ist oder wenn Freya komische Sachen macht, dann lacht sie aus vollem Herzen.

    Die Stille im Foto-Atelier wird ungemütlich und Nadeshda räuspert sich. „Ähm, ich möchte lieber ein ernstes Foto“, bittet sie und die Fotografin lacht amüsiert auf. „Na, wie Sie möchten. Dann schauen Sie bitte zu mir. Und den Kopf etwas schräg, bitte.“

    Als Nadeshda den Laden verlässt, hat sie ein weißes Heftchen mit vier Fotografien in der Hand. Sie möchte sich eine Arbeit suchen, ein paar Stunden nur. Der Großvater hätte sicher nichts dagegen, wenn sie etwas nützliches tut. Sie möchte im Bio-Laden an der Landstraße fragen oder vielleicht im Kindergarten in Clenze. Auf Kinder aufpassen, ja, das wäre nett. Vielleicht könnte sie ein bisschen Geld verdienen und so in die Haushaltskasse einzahlen.

    Zu Hause setzt sich sich an den abgeschabten Küchentisch und schreibt: Geboren im Mai 2000, Abitur in Stuttgart. Pflege des Großvaters. Hobby Sport. Sie schaut an die Küchenwand mit den vielen Fotografien. Viel ist das nicht. Sie denkt nach und formuliert: „Ich bin freundlich und kann sehr gut mit Menschen umgehen.“ Sie blickt wieder auf. Stimmt das? Eigentlich machen Menschen ihr oft Angst. Sie versteht ihre Beweggründe nicht und oft hat sie das Gefühl, dass ihre Mitmenschen geheime Verhaltenskodizi beherrschen, von denen sie nichts weiß. Als hätten sich alle hinter ihrem Rücken abgesprochen, als würden alle Anderen das zu Hause oder in der Schule lernen. Warum man dies nicht sagt oder jenes unbedingt erwähnen muss. Wann man lächelt und wann man besser schweigt. Hier, beim Großvater, da ist Nadeshda sicher. Das bisschen Schimpfen, das kann sie gut aushalten und hier kann sie sie selbst sein.

    Traurig lässt sie den Stift fallen. Was, wenn der Großvater wirklich nicht zurück kommt? In der Diele klingelt schon wieder das Telefon und Nadeshda durchzuckt es. Sicher ist das wieder das Pflegeheim. Oder das Krankenhaus oder Tante Sonja, die auf sie einreden will. Morgen wird sie noch einmal mit den Verwandten sprechen und wird sich überlegen, wie sie den Großvater hier pflegen kann. Dann kommt ihr ein Gedanke, der sie hoffnungsfroh macht. In Clenze hat ein neuer Arzt seine Praxis eröffnet, Peet hat erzählt, dass er freundlich und aufgeschlossen ist. Sie wird ihn gleich anrufen. Hastig springt sie auf und setzt sich vor den Computer. Sie gibt „Allgemeinarzt“ und „Clenze“ in die Suchmaschine ein und prompt spuckt der Computer ihr ein paar Telefonnumer aus. Da. Christian Teufel. Das muss er sein.

    Nadeshda notiert die Nummer auf einem Zettel und läuft in die Diele. Sie wählt, wartet und dann sagt sie: „Guten Tag, ich rufe wegen meines Großvaters an.“ Der Arzt, verspricht man ihr, wird zurückrufen. Sie nennt ihre Telefonnummer und legt auf. Dann läuft sie in ihr Zimmer und sucht ihre Sporthose aus dem Schrank. Sie will trainieren gehen und dann eine lange Runde mit Freya durch die Wiesen laufen. Hoffnung. Es gibt Hoffnung. Nadeshdas Herz ist leicht und die Sonne scheint durch das Gaubenfenster in die Zimmer.

  • Neunzehn

    Februar 20th, 2024

    Als Krochowski am Morgen seinen Kaffee trinkt, miaut es vor der Tür. Der dicke Kater von Michael Wildner möchte in die Küche. Er läuft umher, miaut klagend, schaut ins Wohnzimmer und hüpft dann eilig die Treppe ins Schlafzimmer hinauf. „Was hast Du, Katertier?“, ruft Krochowski ihm nach. Doch der Kater ist schon wieder auf dem Weg nach unten. Mit runden Pupillen schaut er starr in Krochowskis Gesicht und miaut noch einmal auf eine Art, wie sie Krochowski noch nie bei ihm gehört hat. Tief und seltsam. Dann läuft das Tier zur Tür und verschwindet im Unkraut zwischen den alten Autos.

    In seiner Arbeitsmontur – blaue Latzhose, dicker Pulli, derbe Schuhe – macht Krochowski sich auf den Weg zur Arbeit. Uschi steht hinter der Küchengardine ihres Hauses und winkt mit der linken Hand. Die Rechte drückt sie sich über den Mund. Krochowski winkt zurück und fährt knatternd davon.

    Im Institut, wie das Beerdigungsunternehmen etwas angeberisch von allen Angestellten genannt wird, ist Betrieb. Der alte Mercedes rollt gerade vom Hof, Herr Steinhauer telefoniert mit seinem Mobiltelefon und macht nebenher Notizen. „Ah, verstehe. Ja, wir haben auch Sondergrößen.“, hört Krochowski ihn sagen. Ein weißhaariger, untersetzter Mann in Arbeitskluft kommt um die Ecke und sagt: „Lieferung aus Dannenberg, gestern Nacht verstorben.“ Im Behandlungsraum brennt hell das Licht, der Metalltisch strahlt und glänzt.

    Doch Krochowski ist heute in der kleinen Schreinerei eingeteilt, er soll lernen, wie man einen Sarg veredelt und mit Polsterung und Satinfutter versieht. Auch das richtige Schleifen und Lasieren sei wichtig, hat der Silberhaarige gewichtig erklärt. Krochowski geht als Erstes mal einen Kaffee holen und dann durch die Hintertür in die Werkstatt, wo schon Janko, ein freundlicher Kollege aus Polen, steht und lärmend an einem hellen Kiefernsarg herumschleift. Als Krochowski winkt und wedelt, und endlich bemerkt ihn Janko und nimmt seinen Gehörschutz ab. „Ah, pünktlich wie ein Maurer, komm rein, Chef!“ Sein Kollege erklärt ihm genau, welche Kanten an dem großen Werkstück noch gut abgestoßen werden müssen und welche Körnung er auf das Schleifgerät kletten muss. Erst grob, dann feiner, bis das Holz ganz glatt ist und sich anfühlt wie Seide. „Die Kanten mach ich, die müssen ganz gleichmäßig“, schnauft Janko. „Mach mal los, ich bin gleich wieder da.“ Und Krochowski setzt sich den gelben Gehörschutz, den man hier „Mickymäuse“ nennen auf die Ohren, legt das grobkörnige Schleifpapier auf und tut, wie ihm geheißen. Immer mit der Maserung, ein bisschen kreisen, nicht zu fest drücken, sonst gibt es Löcher. Er schleift und schleift, wechselt das Schleifpapier, macht weiter. Immer weicher wird das Holz, die kleinen, kurzen Fasern sind jetzt fast verschwunden. Der Holzstaub hat sich nach zwei Stunden in alle Falten gesetzt, hängt an Krochowskis Wimpern und klebt im verschwitzten Nacken. Sein Rücken tut weh, die Schultern sind verspannt, aber Janko schnalzt anerkennend mit der Zunge, als er den Sarg mit der Hand abfährt und von allen Seiten betrachtet. „Das klappt ja nicht schlecht“, freut er sich und schaut auf die Uhr. Gleich zwölf! Deine Schicht ist fast vorbei. Noch nen Kaffee? Krochowski nickt. Er hat Durst. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine hören sie den Bestattungswagen in den Hof rollen. Der Verstorbene von gestern Nacht wird angeliefert.

    Als Krochowski sich im Hof abklopft, wird der schlichte graue Kunststoffsarg gerade ausgeladen. Die Männer schnaufen, der Sarg ist schwer. Krochowski folgt ihnen in den Behandlungsraum und sein Herz klopft. Er kann sich nicht erinnern, wann er einen toten Menschen gesehen hat. Doch, seine Mutter. Aber einen Fremden? Er kommt sich pietätlos vor und möchte gern schnell das Geschäft verlassen. Doch Herr Steinhauer hält ihn auf: „Herr Krochowski, ich habe gehört, dass Sie heute gute Arbeit geleistet haben! Kommen Sie doch noch kurz rein, hier können Sie gleich etwas lernen!“ Krochowski tritt von einem Fuß auf den anderen. „Ich bin recht müde jetzt.“ Doch der Chef lässt nicht locker. „Kommen Sie, kommen Sie, es dauert nicht lang.“ Krochowski bleibt keine Wahl, der folgt seinem Chef in den Behandlungsraum, wo der Verstorbene bereits auf dem Tisch liegt. Er ist recht groß, sehr bleich und trägt ein Krankenhaushemd. An seinem Zeh hängt wirklich ein Zettel mit einer Nummer, wie im Film. Die Haare sehen seltsam lebendig aus an diesem toten Menschen, der einst der beste Nachbar war, sein Freund. Auf dem Tisch liegt Michael Wildner.

  • Achtzehn

    Februar 2nd, 2024

    Achtzehn

    Unter dem Tennendach ist es noch kühl, denn es ist früh am Morgen. Die Sonne scheint schräg durch die durchsichtigen Dachplatten. Die Katze sitzt da und schaut Nadeshda zu. Die hat sich ein Brett in die Sprossenwand gehängt und macht Situps. Sie liegt kopfunter auf der schrägen Ebene und keucht. Eins, zwei, drei. Zehn Wiederholungen, dann hält sie kurz inne, dann wieder zehn. Ihr Shirt ist an Bauch und Rücken dunkel vom Schweiß.

    Nadeshdas Muskeln brennen und ihr Nacken tut weh, doch sie macht weiter. Sie atmet keuchend aus. Die Hände hat sie hinter dem Kopf verschränkt die Ellenbogen schiebt sie abwechselnd nach vorn. An ihren Fußrücken haben sich rote Striemen gebildet, es schmerzt. Das tut gut, das macht, dass der Tumult in ihrer Brust ein wenig leiser wird.

    Gestern war Nadeshda im Krankenhaus. Der Großvater schlief, als sie kam. So matt und durchscheinend sah er aus, wie er da in seinem ordentlichen Schlafanzug im Bett lag. Ein wenig Speichel war an seiner Wange eingetrocknet und Nadeshda hatte versucht, den Fleck zu entfernen. Unwirsch hatte der Großvater da mit der Hand nach dem Tuch geschlagen, er war aufgewacht und hatte sie aus einen kühlen blauen Augen angesehen. „Du.“ Mehr hatte er nicht gesagt.

    Nadeshda hatte in ihrem Beutel nach dem Gedichtband gekramt und ihn dem Großvater hingehalten. „Schau, hab ich Dir mitgebracht. Soll ich vorlesen?“ Der Großvater hatte nicht geantwortet. Ganz grade hatte er sich hingelegt und an die Decke geschaut. Da hatte Nadeshda in dem Bändchen geblättert und auf gut Glück ein Gedicht von Rilke ausgewählt. „Härte schwand“, hatte sie gelesen, „Auf einmal legt sich Schonung auf der Wiesen aufgedecktes Grau.“ Der Großvater hatte schweigend dagelegen, nur seine Augen waren irgendwie weicher geworden. Nadeshda hatte mutig weitergemacht: „Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau.“ Da war eine Träne aus Großvaters Auge die Wange heruntergerollt und er hatte mit der linken Hand nach Nadeshda und dem Buch getastet. Er hatte ihren Arm kurz gehalten, ganz fest hatte seine alte Männerhand sich um ihren dünnen Unterarm geschlossen. „Geh“, hatte er dann mit rauer Stimme gemurmelt. „Geh, nimm das Buch mit.“ Und als sie hatte protestieren wollen und als sie angefangen hatte, vom Garten zu reden und von den Karotten und von Peet, schnell und sich verhaspelnd, da hatte er sie überraschend laut und entschieden angefahren. Sie sollte gehen, er brauche sie nicht. Und dann hatte er ihr das Buch aus der Hand genommen und zu Boden geworfen.

    Der Arzt in seinem Glaskasten hatte Nadeshda mitfühlend angeschaut und ihr erklärt, dass der Großvater nun „stabil“ sei und man hier im Krankenhaus nichts mehr für ihn tun könne. Die Familie müsse entscheiden, was nun zu tun sei und er habe auch schon mit einer Tochter gesprochen, die eine Verlegung in ein Pflegeheim befürworte. Nadeshda war erschrocken aufgefahren. Niemand hatte ihr gesagt, dass man sogar im Krankenhaus anrufen würde.

    Sie hatte etwas von einer Familienkonferenz gemurmelt, und um einen Tag Aufschub gebeten, sie wolle alles klären und sich morgen melden.

    Als sie am frühen Abend nach Hause gekommen war, hatte der Anrufbeantworter im Flur geblinkt. Die muntere Stimme einer Frau war darauf zu hören, sie hatte vom Pflegeheim in Clenze angerufen. Man solle sich melden, es sei kurzfristig ein Bett in einem Zwei-Bett-Zimmer frei geworden. Der Großvater im Heim. Mit einem fremden alten Mann im Zimmer, der vielleicht herumbrabbelte oder ins Bett machte. Nadeshda hatte die Nachricht einfach gelöscht und war mit dem Hund losgelaufen, in der Abenddämmerung durch die Wiesen gestreift und hatte geweint. Leise und traurig und immer wieder.

    Nun trainierte sie sich den Schmerz aus dem Leib. Wenn sie in der Tenne war und Sport machte, konnte sie nicht ans Telefon gehen. Sicher würde Tante Sonja oder Onkel Veit bald anrufen und auf sie einreden. Doch sie wollte nichts hören. Gar nichts. Sie wollte, dass der Großvater zurück kam in sein Haus mit den schiefen Wänden. Sie wollte seine Hände in der Erde wühlen sehen, die weißen, knotigen Finger zwischen den schwarzen Krumen. Sie wollte mit ihm Radieschenbrote essen und Apfelsaft trinken und sich von ihm ausschimpfen lassen. Der Großvater sollte zurückkommen.

  • Siebzehn

    Januar 25th, 2024

    Das Beerdigungsinstitut ist in einem Eckhaus in Lüchow untergebracht. Im Schaufenster hängt ein Bild mit einem Baum im Nebel, ein Tuch ist auf dem Boden drapiert. Krochowski steht vor der Scheibe und schaut auf das Arrangement. Er muss Speichel hinunterschlucken, beim Schlucken drückt der Hemdkragen unangenehm auf seinen Kehlkopf. Dann fasst er sich ein Herz und geht zu der großen, alten Holztür, legt seine Hand auf die eiserne Klinke und tritt ein. Drinnen ist es still, Staubkörnchen flirren durch das Sonnenlicht. Das Ambiente ist förmlich, ordentlich und sehr, sehr still. Krochowski sieht niemandem in dem Raum und tritt von einem Bein aufs andere. Ob er rufen soll? Er räuspert sich, doch bevor er lauter werden muss, schiebt sich ein Vorhang zur Seite und ein junger Mann betritt den Raum. „Herr Krochewski, da sind Sie ja!“, sagt er und winkt einladend. „Kommen Sie, wir setzen uns hinten bei einer Tasse Kaffee zusammen.“ Kaffee hört sich gut an. Krochowski rückt sich den steifen Krawattenknoten zurecht und folgt dem Mann durch den Vorhang. Die Dielen knarren, als die beiden Männer einen langen, schmalen Flur entlanggehen, an dessen Ende sich ein Büro befindet. Hinter dem großen Schreibtisch steht ein lederner Bürostuhl, auf dem Jonas Steinhauer nun Platz nimmt. Er weist einladend auf einen Stuhl vor seinem Tisch. „Setzen Sie sich doch!“ Sein schlanker, junger Leib steckt in Jeans und Polohemd und Krochowski kommt ich in seinem steifen Anzug mit der Krawatte etwas seltsam vor.

    Jonas Steinhauer gießt dampfenden Kaffee aus einer Thermoskanne in kleine, weißblaue Tässchen ein und schiebt ein Tablett mit Milchkanne und Zuckerwürfeln über den Tisch. „Herr Prochowski, wie schön, dass Sie sich beworben haben!“ „Krochowski.“ „Äh? Ja, natürlich, Krochowski.“ Krochowski ist unsicher. „Was hat Sie denn zu ihrer Bewerbung bewogen?“ „Naja…“ Krochowski rutscht auf dem Stuhl ein bisschen nach vorn und knetet seine Hände zwischen den Knien. Soll er die Wahrheit sagen? Dass das Jobcenter ihm im Nacken sitzt und er einfach eine Arbeit sucht, bei der er nicht so viel reden muss? Er räuspert sich und setzt an: „Ich brauche Arbeit.“ Jonas Steinhauer nickt freundlich und wartet. „Und ich rede nicht so gern.“ Sein Gegenüber lacht und sagt: „Na, da sind sie ja bei uns genau richtig. Die Gespräche mit unseren Klienten führe in der Regel ich. Sie dürfen sich getrost im Hintergrund halten.“ Krochowski nickt. Hintergrund. Sehr gut.

    Sie reden über den Ablauf einer Beerdigung, Krochowski erzählt von seiner Arbeit bei der Bahn und was ihm am Lok-Fahren Freude bereitet hat. Sie sprechen über Arbeitszeiten, über gutes und schlechtes Wetter, über einfühlsames Verhalten und die Bedeutung von Respekt und Würde. Krochowski nickt und spricht und erläutert und hört zu. Dann sagt Jonas Steinhauer: „Ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte. Ich möchte, dass sie einmal den Flur entlang gehen.“ Ein Schauer durchfährt Krochowski, er fängt aufgeregt an zu zittern. Dann nickt er und steht auf. „Ja klar. Äh, einfach hier entlang?“ „Ja, bitte!“ sagt Jonas Steinhauer und nickt freundlich. „Und…“ er steht ebenfalls auf und greift hinter sich ins Regal: „Wenn sie dies hier noch tragen könnten?“ Eine hübsche, vasenförmige schwarzlackierte Urne wandert in Krochowskis schwitzige Hände. Er nickt und dreht sich um. Schweiß läuft ihm zwischen den Schulterblättern hinab und er hofft, dass sein Polyesterjackett keine Flecken hat. Dann tritt er vorsichtig über die Schwelle des Büros in den Flur und läuft langsam über die Dielen. Seinen Blick heftet er dabei auf den grauen Vorhang. Die Urne hängt rutschig in seinen Händen, er hält die Arme steif vor sich her. Am Ende des Flurs angekommen, dreht er sich um und blickt fragend. Jonas Steinhauer lächelt ihn aufmunternd an. „Sehr gut! Und wieder zurück!“ Krochowski atmet tief ein und geht die paar Schritte zurück zu seinem Gesprächspartner. Dann blickt er verlegen auf die Urne. „Fertig?“ fragt er. „Jaja, das war sehr gut, Herr Krochawski!“ Erleichtert setzt sich Krochowski wieder auf seinen Stuhl. „Haben Sie noch Fragen, Herr Krochawski?“ „Nein. Nur, wann ich anfangen könnte, weil das Jobcenter… Also, falls ich die Arbeit bekomme, meine ich. Und… ich heiße Krochowski…“ Jonas Steinhauer nickt und blättert in seinen Unterlagen. „Tja… Ich müsste mal mit ihrem Kollegen sprechen, der müsste Sie dann ja einarbeiten. Aber grundsätzlich…“ In Krochowskis Kopf rattert es. Grundsätzlich? Was heißt das denn? Kann er hier arbeiten? Jonas Steinhauer lächelt schon wieder. Wie kann einer soviel lächeln, wo er doch dauernd Menschen unter die Erde bringt? „Ich rede mit der Geschäftsführerin und rufe Sie morgen an.“ Dann steht er auf und kommt um seinen Schreibtisch herum. Krochowski springt auf, sein Stuhl kippt ein bisschen nach hinten. „Hoppla!“ Schon wieder so ein Lachen. „Na, dann kommen Sie mal gut nach Hause, Herr Krocharski! Ich melde mich morgen bei Ihnen.“

    Im Auto macht Krochowski entgegen seiner Gewohnheit das Autoradio an. Ein Schlager läuft. „Er gehört zu mir“ singt Marianne Rosenberg. Krochowski brummt mit.

  • Sechzehn

    Januar 19th, 2024

    Nadeshda kniet im Garten und zupft winzige Karottenpflanzen aus der Erde. „Vereinzeln“ nennt der Großvater das. Es ist wichtig, dass die Pflanzen Abstand zueinander haben. Nur so können dicke, große Karotten heranwachsen. Vor zwei Wochen hat sie die winzigkleinen schwarzen Samen in die Erde gestreuselt, in die schnurgeraden Rillen, die der Großvater ächzend gezogen hat. Und dann haben sie mit der Gießkanne das Wasser aus der Regentonne darüber gegossen, bis die Erde schwer und feucht war. Jeden Tag, seit der Großvater im Krankenhaus ist, hat Nadeshda den Garten gehegt und gepflegt. Es fühlt sich gut an, so, als würde sie dem Großvater, diesem stocksteifen, strengen Mann, die Bettdecke sorgfältig über die magere Brust legen und an den Füßen schön feststopfen.

    Seit ein paar Tagen nun schauen die Karottenpflänzchen aus der Erde. Daneben wachsen die Radieschen, die Nadeshda gern zum Abendessen auf einem Margarinebrot isst. Lecker, wenn das Salz, das sie auf die Rettichscheiben streut, die Radieschen zum Schwitzen bringt. Die stacheligen, dicken Blätter wirft Nadeshda in den Mixer und macht mit Saft und Nussmus einen feinen Trunk daraus. Der Großvater, der nun still und klein im Krankenhaus liegt, liebte jede Jahreszeit, aber den Frühling besonders. „Im Frühling kommt es darauf an“, sagte er stets. Ja, es kam darauf an. Die Saat wurde gelegt, und dann hieß es Unkraut jäten und gießen, gießen, gießen. Oder sorgenvoll in den Himmel schauen, wenn es nicht aufhört zu regnen.

    Aber heute scheint die Sonne und Nadeshda wird nachher ins Krankenhaus fahren. Sie hat auf dem Nachttischchen des Großvaters ein Büchlein gefunden. Ein zerlesener Gedichtband ist es, mit Stücken von Hesse, Rilke, Dürrenmatt. Die Seiten sind speckig und dünn und Nadeshda freut sich, dem Großvater daraus vorzulesen. Er liegt immer noch wie ein Vögelein in seinem Bett, aber er muss nicht mehr beatmet werden. Sein Herz schlägt, seine Lungen füllen sich regelmäßig mit Luft. Manchmal atmet er schwer und rasselnd, manchmal leicht und still und nie weiß Nadeshda, ob das gut oder schlecht ist und immer hat sie Angst um den nächsten Atemzug.

    Der Großvater ist oft böse und streng, wie viele Male musste sie weinen und Klimmzüge machen, wenn sie wütend war. Aber er ist ihr Alltag, ihr Gerüst, ihre Daseinsberechtigung. Sie weiß nicht, was sie tun sollte, wenn der Großvater fort geht. Sie hat kein anderes Zuhause als dieses alte Haus mit den gelblichen Wandvertäfelungen, mit der kleinen Küche ohne Spülmaschine und mit dem schiefen Dach. Die Turnhalle in der Scheune ist ihr Ankerpunkt, ihre Versicherung und ihr Ventil. Und wenn der Großvater nicht mehr lebt, dann wollen die Onkel und Tanten sicher das Haus verkaufen. Dann muss Nadeshda gehen.

    Die Hündin Freya hat sich in all ihrer Schönheit in der Spätfrühlingssonne ausgebreitet. Ihr kupferfarbenes Fell glänzt und scheint. Nadeshda klopft sich die sandigen Hände am Hosenboden ab und kniet sich zu dem Tier. „Na, meine Schöne? Wollen wir eine Runde drehen?“

    Auf dem Weg durchs Dorf treffen die Beiden auf Peet, den Nachbarn mit den wilden Locken und dem Bauwagen im Garten. Er fragt Nadeshda nach dem Großvater und sie antwortet: „Es geht ihm besser, aber er ist immer noch sehr schwach.“ Peet möchte wissen, ob der Großvater wieder nach Hause kommen wird. „Das hoffe ich und ich weiß, dass er es möchte. Aber die Onkel und Tanten wollen ihn in ein Heim stecken.“ Nadeshda schaut auf ihre Schuhspitzen. Schon seit Tagen steht das Telefon nicht still und Tante Sonja und Onkel Falk und seine Frau Brigitte rufen aufgeregt in den Hörer, dass es so nicht weiter ginge, sie reden von Verantwortung und von Pflegebetten und Pflegegraden und von Krankenkassen-Berichten und Lähmungen und vom Tod. Nadeshda schauert zusammen und blickt Peet an. „Heute Nachmittag fahre ich ihn besuchen. Es geht ihm jeden Tag ein bisschen besser.“ „Dann grüße ihn bitte von mir und sage ihm, dass ich ihn bald wieder auf der Dorfstraße spazieren gehen sehen möchte.“ Peet lächelt und legt Nadeshda eine Hand auf die Schulter. Das ist ein seltsames Gefühl, aber es ist auch ein bisschen schön.

    Auf dem Weg durch die Wiesen denkt Nadeshda darüber nach, wie sie den Großvater zu Hause pflegen kann. Ob ein Nachbar ihn die Treppe hinauftragen wird? Braucht sie vielleicht ein besonderes Bett für ihn? Oder können die Sanitäter das machen? Sie stellt sich vor, wie der Großvater in einem Pflegebett in seinem Zimmer thront und Anweisungen gibt. Sie wird ihm Suppe kochen und Brotbrocken hineintunken, sie wird ihm vom Garten erzählen und ihm Radieschen in feine Scheiben schneiden, damit er den Rettichgeschmack auf der Zunge fühlen kann.

  • Fünfzehn

    Januar 11th, 2024

    Es tutet. Krochowski presst das Telefon ans Ohr. Der Hörer rutscht an seiner Wange herum, denn Krochowski schwitzt. Es klingelt erneut. Zweimal, dreimal. Erleichtert will Krochowski schon auflegen, doch dann meldet sich die Stimme eines jungen Mannes. „Steinhauer und Berger, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Stimme und Krochowski findet, der Mann könnte ein wenig salbungsvoller und nicht so fröhlich klingen. „Ich habe Ihre Anzeige gelesen“, sagt er. „Deswegen rufe ich an.“ Der Mann schweigt. Krochowski wird unruhig, warum antwortet er denn nicht? „Wegen der Stelle Urnenträger“, sagt er etwas ungeduldig. „Aaaah!“ Der Mann lacht. „Sie möchten sich bewerben?“ Krochowski nickt stumm, dann reißt er sich zusammen und sagt: „Ja!“ „Sehr gut! Dann schicken Sie uns bitte Ihren Lebenslauf und eine kurze Bewerbung. Bitte vergessen Sie nicht, Ihre Telefonnummer aufzuschreiben. Wir rufen Sie an, wenn wir Sie kennenlernen möchten.“ „Kann ich nicht einfach so vorbeikommen?“ Krochowski schluckt. Bewerbungsschreiben. „Nein, das geht leider nicht. Aber Sie dürfen das Schreiben natürlich auch handschriftlich anfertigen.“ Krochowski kann spüren, wie der Mann von einem Fuß auf den anderen tritt. „Na gut.“ „Die Adresse haben Sie? Sie steht unter der Anzeige!“ „Ja, ist gut. Wiederhören.“ „Auf Wiederhören!“

    Krochowski lässt den Hörer auf die Gabel sinken. Er soll was schreiben. Ach Gott. Er wählt die kurze Nummer von Michael Wildner. Uschi nimmt ab. „Klaus! Wie war es? Michael hat mir alles erzählt!“ „Gib ihn mir mal“, brummt Krochowski, er hat keine Lust zu plaudern. Schwer atmend kommt der Freund ans Telefon. „Chef! Wie war’s, bist Du eingestellt?“ „Nein. Die wollen, dass ich Ihnen schreibe.“ Man hört es leise rascheln, bestimmt kratzt Wildner sich am Kopf. „Was schreiben?“ „Ja, Lebenslauf und so weiter.“ „Ah. Ich frag Uschi, die hilft Dir.“ Großartig. Krochowski seufzt. Worauf hat er sich da eingelassen?

    Zehn Minuten später klappt die Küchentür und Uschi steht in all ihrer Munterkeit in seiner grauen Küche. „Klaus! Ich hab Zettel und Stift und sogar Briefmarken dabei! Wir können direkt loslegen!“ Uschi lächelt, als sie ihren Nachbarn so hilflos dastehen sieht. „Vielleicht machst Du uns erstmal ein Bier auf, hmm?“ Gute Idee. Krochowski geht zum Kühlschrank und nimmt zwei Dosen heraus. Währenddessen hat Uschi schon mal das Geschirr vom Küchentisch geräumt und mit entschlossener Miene die Krümel herunter gewischt. Dann rutscht sie auf die Küchenbank und legt Papier und Stift so hin, dass Krochowski anfangen kann.

    „Zuerst die Adresse, Klaus!“ sagt Uschi und blickt sich suchend um. Wo ist die Anzeige? Die Anzeige! Die Zeitung liegt auf dem Kühlschrank, und Krochowski hat sie so gefaltet, dass die Anzeige gleich oben zu sehen ist. „Steinhauer und Berger“, sagt er und „Lindental 3“. „Aha.“ Uschi sieht ihn geschäftsmäßig an. Dann schreib mal auf! Oben links in die Ecke, Nachbar! Krochowski legt die Anzeige vor sich hin und schreibt. „Fertig.“ Uschi nickt zufrieden. „Jetzt den Text. Das fängt immer gleich an“, sagt sie. „Sehr geehrte Damen und Herren.“ Krochowski schreibt. „Komma!“, sagt Uschi. Und dann schaut sie ihn an. „Du musst jetzt aufschreiben, dass Du Dich um die Stelle als Urnenträger bewerben möchtest. Und Du musst denen erklären, warum Du meinst, dass sie Dich einstellen sollen. Du hast doch Berufserfahrung, nicht?“ „Ja, aber doch als Lokführer!“ Krochowski wird ganz zappelig. Das ist doch alles Quatsch. Aber Uschi lässt nicht locker. „Du bist ruhig und freundlich und äh – gepflegt, wenn Du Dich ein bisschen anstrengst.“ Sie lächelt. „Na komm, schreib!“

    Am Ende ist das Schreiben fertig, in dem steht, dass Krochowski gern Sarg- und Urnenträger sein möchte. Dass er sich zu benehmen weiß, dass er einen schwarzen Anzug hat und dass er lange arbeitslos war und nun versuchen möchte, wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

    Der Lebenslauf ist dagegen ein Klacks, die Tabelle mit Schulbildung, Ausbildung und Daten ist nicht allzu lang. Abitur, Ausbildung bei der NVA, Lokführer. Viel ist das nicht, findet Krochowski und doch ist es sein ganzes Leben. Eigentlich nicht so schlecht, wenn man es recht bedenkt.

    „Hast Du noch ein Bild?“ Krochowski nickt. Er hat es vorhin schon aus der Küchenschublade gekramt, es ist schon ein paar Jahre alt, aber die Falten zählt ja wohl niemand bei Steinhauer und Berger. „Prima!“ Uschi klebt das Bild oben auf den Lebenslauf und dann schiebt sie beide Blätter in den Briefumschlag. „Einwerfen musst Du selber!“, sagt sie lachend und klopft ihm beim Gehen auf die Schulter.

    Krochowski steht vor dem Briefkasten neben dem Fußballplatz und hält den Umschlag in den Händen. Er atmet einmal tief ein, dann hebt er die Klappe des Kastens und lässt den Brief hineinrutschen. Auf dem Heimweg fühlt er sich ein bisschen fröhlich und irgendwie leichter als sonst.

  • Vierzehn

    Dezember 25th, 2023

    Im Krankenhausflur riecht es schon nach Mittagessen, als Nadeshda den Großvater endlich gefunden hat. Eine Schwester schiebt einen großen Wagen mit Essensportionen an Nadeshda vorbei und parkt ihn an der Wand. Ihre weißen Gummischuhe quietschen auf dem Linoleum. 

    „Entschuldigung“, Nadeshda räuspert sich und setzt noch einmal an, diesmal lauter: „Entschuldigen Sie bitte, hier ist heute morgen ein alter Mann eingeliefert worden.“ Und leiser: „Mein Großvater.“ Die Schwester blickt über die Schulter, als sie ein Tablett vom Wagen hebt. „Heute morgen? Das muss der von der ITS sein.“ „ITS? Wo ist das?“ „Intensivstation“, sagt die Schwester und guckt ein bisschen mitfühlend. Und während sie die Tür zu einem Patientenzimmer aufstößt, ruft sie noch: „Eine Etage runter!“ 

    Intensivstation. Nadeshdas Haut kribbelt und auf ihrer Oberlippe bildet sich kalter Schweiß. Warum denn das, der Großvater war doch noch ganz munter als sie ihn holten, sogar schimpfen konnte er noch. Und vielleicht sei ein Bein gebrochen, hatte der Doktor gesagt. Diese dumme Schwester, bestimmt hatte sie sich geirrt. Nadeshda wartet, bis die Frau wieder aus dem Zimmer kommt, um die nächsten Tabletts zu verteilen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie wieder. „Es tut mir leid, aber sie müssen sich irren, mein Großvater ist nur die Treppe heruntergefallen, er war nicht schwer verletzt.“ Die Schwester schnappt sich das nächste Tablett und geht zur Tür gegenüber. „Schauen Sie doch nach!“ sagt sie nur und ist verschwunden. 

    Nadeshda steigt mit zitternden Beinen das untere Stockwerk, zieht die schwere Etagentür auf und steht in einem weiteren hell erleuchteten Flur mit Linoleumboden. „Intensivstation“ steht auf einem Wegweiser und so lenkt Nadeshda ihre unsicheren Schritte nach rechts. Dort wartet eine Tür auf sie, mit hellgelben Buchstaben und einem großen „STOPP!“ beklebt. Klingeln solle man, steht da und so drückt das Mädchen bange auf den Knopf, der neben der Tür angebracht ist. Sie wartet und hört zu, wie das Krankenhaus summt. Dann nähern sich eilige Schritte und ein Pfleger im blauen Kasack öffnet ihr die Tür. „Entschuldigen Sie“, sagt Nadeshda. „Mein Name ist Nadeshda Herrmann, und die Schwester sagte mir, dass mein Großvater hier ist, aber ich glaube nicht, weil er ist nur gestürzt, aber sie sagte, ich soll hier fragen…“ Nadeshda merkt, dass sie ins Plappern gerät vor Aufregung aber der Pfleger schaut sie geduldig an und wartet, bis sie fertig ist. „Ja, Frau Hermann, kommen Sie rein“, sagt er und dann noch: „Der Doktor war gerade da, Sie können gleich mit ihm reden.“ 

    Es ist wahr. Ihr Großvater ist hier. Nadeshda fühlt, wie ihre Augen ganz heiß werden und der Hals eng. Dann tappt sie hinter dem Pfleger her, hinter ihr fällt die Glastür ins Schloss. Der Mann führt sie in ein Zimmer, das ganz vollgestellt mit piepsenden Maschinen ist. Laut ist es darin und heiß. In einem Bett, verkabelt und mit Kanülen in Arm und Hals, mit einem Schlauch, der schrecklich brutal in seinem geöffneten Mund verschwindet, liegt der Großvater. Sein Brustkorb hebt und senkt sich seltsam rhythmisch, er sieht sehr alt und sehr klein zugleich aus. Wie ein sehr altes Baby. Nadeshda weint. Sie sucht unter all dem Zeug das da mit dem Großvater im Bett ist seine Hand. Dann seht sie da und streichelt die alten Finger. „Großvater….“ 

    Eine Stunde später sitzt Nadeshda wieder im Auto. Sie fährt durch den hellen Frühlingstag, das Auto summt munter die Straße entlang. Nadeshdas Hände umklammern das Lenkrad, seltsam taub fühlt sich das an. In ihren Ohren klingen die Worte des Arztes, der ihr mit der Geschäftsmäßigkeit eines Automobilmechanikers den Zustand des Großvaters erläutert hat. Einen Schlaganfall hatte er. Gestürzt sei er wohl, weil sein linkes Bein ihn nicht mehr trug, weil sein Gehirn ihn nicht mehr lenkte. Der Großvater ist krank, sehr krank, das hat sie verstanden. Ob er wieder aufwachen wird, konnte der Arzt ihr nicht sagen. 

    Zu Hause lenkt Nadeshda ihren Wagen in den Unterstand, dann geht sie ins Haus, den Hund befreien. Freya umspringt ihre Herrin jappend und jaulend und läuft hinaus auf die Wiese hinterm Haus. 

  • Dreizehn

    Dezember 21st, 2023

    Krochowski ist an diesem Samstagmorgen früh aufgewacht. Ein dummer Traum, in dem sein Nachbar Michael Wildner in einem Sarg lag, der bis zum Rand mit hellgelbem Kuchenteig gefüllt war, hat ihn aus dem Schlaf gerissen. Krochowski ist in der Morgendämmerung in den Garten gegangen, um zu pinkeln. Es ist gut, das feuchte, stachelige Gras an den nackten Füßen zu spüren und die volle Blase genüßlich zu leeren. Ein paar Spritzer netzen die Schuppentür. Krochowski schnuppert. Der süßlich-strenge Geruch fällt ihm seit ein paar Tagen auf, aber jetzt wird er unangenehm und stechend. Er öffnet vorsichtig den kleinen Holzverschlag. Auf einem Stapel Autoreifen winden sich ein paar dicke, weiße Maden. Nicht viele, eine Handvoll nur. Aber der Geruch ist stark hier drin. Krochowski steckt vorsichtig den Kopf tiefer in das Dunkel des Abstellraums und atmet noch einmal vorsichtig ein. Es stinkt. Er muss ein bisschen würgen. Wo kommen die Maden her? Er blickt über sich, an die Schuppendecke, sieht ein loses Brett. Es scheint nur noch lose an einem Nagel zu hängen, und ohne nachzudenken zieht er daran. Das Brett löst sich mit einem rostigen Knarzen, dann gibt es ein rutschendes Geräusch. Krochowski kneift die Augen zu, Dreck fällt ihm ins Gesicht und dann passiert das Schreckliche. Eine madenwimmelnde, kalte Masse klatscht ihm erst auf den Kopf und dann auf die Schulter. Überall auf ihm kriecht und windet es sich, Krochowski schreit und rennt vor das Haus. Der Gestank ist nun so intensiv, dass er sich in Krochowskis Gehirn zu bohren scheint. Überall ist der Geruch, in der Nase, im Mund, im Hals. Krochowski würgt und spukt und hustet und erbricht in einem Schwall gelbe Galle ins Gras. Er reißt sich sein Unterhemd vom Leib und wirft es neben den Kotzfleck, dann läuft er mit weichen Knien in die Küche, um sich das Gesicht über der Spüle zu waschen. Was zum Teufel? 

    Eine halbe Stunde später sitzt er mit einem Becher Kaffee, den er sich aus Instantpulver gerührt hat, frisch geduscht und gekleidet in der Sonne auf der Treppe vor seiner Küche. Der Verwesungsgeruch wabert immer noch aufdringlich durch den Garten, aber Krochowski muss erst Mut fassen, bevor er um die Hausecke schauen kann. Er atmet ein bisschen flacher und blinzelt in die Sonne. Vom Nachbargrundstück ist schon die Säge zu hören. Michael Wildner arbeitet. Krochwski steht auf und drückt sich am Autowrack vorbei an den Gartenzaun. In einer Sägepause ruft er: „Nachbar!“ Die Säge hebt wieder an. Krochowski seufzt. Er ruft noch einmal, als das Geräusch abebbt. „Eeeeee! Nachbar!“ Diesmal hat Wildner ihn gehört und kommt aus seiner Werkstatt. Groß und dick, in blauer Latzhose mit weißem T-Shirt steht er da. Die Ohrenschützer hat er sich auf die Stirn geschoben. „Klaus! Was gibt es! Hab ich Dich geweckt?“ Krochowski schüttelt den Kopf und winkt den Nachbarn herüber auf sein Grundstück. Diesen schweren Gang kann er nicht alleine tun. Der kommt neugierig durch seinen Garten gelaufen und biegt durch die klapprige Pforte in Krochowskis Reich ein. „Hab was schauderhaftes entdeckt heute morgen“, brummt Krochowski und deutet halb auf die Hausecke, hinter der der Schuppen liegt. „Oh“, sagt Michael Wildner und guckt fragend. Krochowski schiebt den Freund vor sich her. „Ich will nachsehen, komm mit, das musst Du Dir auch anschauen.“ Gut, Michael Wildner kommt mit. Die Schuppentür steht offen, das lose Brett lehnt im Eingang. Davor liegt ein Häufchen, klein und graubraun und mit ein paar weißen Tupfen. „Was ist das?“ Michael Wildner geht näher heran und stupst das Ding mit dem Fuß an. „Eine Katze!“ Eine Katze hat sich in Krochowskis Schuppen zum Sterben verkrochen und nun ist sie Madenfraß und Schreckmoment geworden. Der Nachbar blickt sich suchend um, dann schnappt er sich eine Schaufel, hebt das tote Tier mit einer geschickten Bewegung auf das Schaufelblatt und wirft es dann mit Schwung in die hohen Brennesseln. „Da ist kaum noch was dran, das stinkt nicht mehr lange“ keucht er dabei und dann stellt er die Schaufel weg und blickt Krochowski an. „Frühschoppen?“ 

    Die Männer sitzen auf der Küchentreppe und halten ihre Bierdosen in den Händen. Krochowski berichtet von dem Gespräch im Jobcenter und von der Fortbildungsmaßnahme. Seine Stimme ist belegt und er blickt starr geradeaus, als er berichtet, dass ihm die Bezüge gestrichen werden, wenn er nicht mitmacht. Michael Wildner lauscht und nickt und guckt vor sich hin. Dann sagt er: „Eine Arbeit bräuchtest Du. Dann wärst Du die Quälgeister los.“ Die Männer trinken. Dann geht Krochowski in die Küche, holt die sandige Zeitung vom Tisch und hält sie dem Freund unter die Nase. „Sarg- und Urnenträger“ liest der. Er blickt Krochowski ins Gesicht und dann wieder auf die Anzeige. „Ist eine gute Arbeit“, sagt er dann, „nicht schlechter als jede andere.“ „Und die Kunden reden nicht besonders viel“, setzt Krochowski nach. Dann legt er die Zeitung bedächtig auf die Treppe und hebt seine Bierdose an die Lippen. 

  • Zwölf

    Oktober 4th, 2023

    Der Tag beginnt mit einem lauten Poltern. Es folgt ein Schrei, dann herrscht Stille. Nadeshda, die in der Küche das Geschirr spülte, eilt in den Flur und schaut entsetzt auf die kleine, seltsam verbogen daliegende Gestalt des Großvaters am Fuß der Treppe. Sein Stock liegt quer auf dem halben Treppenabsatz, ein Schuh hat sich gelöst und ist dem Großvater auf den Rücken gefallen. Der Alte stöhnt und versucht, sich aufzurappeln, aber er klemmt so schief zwischen Wand und Geländer, dass er sich nicht aufrichten kann.

    Nadeshda steht und schaut, ihr Herz rast. Dann schreit der Alte: „Jetzt komm schon, hilf mir auf!“ Da rennt das Mädchen los und springt die Stufen hinab. Sie greift unter die Arme des Großvaters und zerrt und hebt, bis er auf ihren Beinen zum Sitzen kommt. In dieser grotesken Haltung – der Großvater auf den Knien der Enkelin – harren sie kurz aus und schöpfen Atem. Der alte Mann hat sich die Stirn aufgeschlagen, Blut tropft auf Nadeshdas nackte Beine. Vorsichtig schiebt sie sich auf der Treppenstufe, auf der sie zum Sitzen kommen sind, zur Seite und lässt den Großvater neben sich gleiten. Die Hände des Alten schlottern, sein ganzer Körper ist ein zitterndes Häufchen. „Großvater.“ Nadeshda sieht ihn an. „Ich rufe jetzt den Krankenwagen. Kannst Du hier sitzen bleiben?“ Der Großvater weint und jammert und greift sich an die Stirn. Als er das Blut sieht, wird sein Klagen lauter, er zetert. Nadeshda steht vorsichtig auf und geht hinauf in den Flur, wo das alte blaue Telefon steht. Sie wählt die 112. „Notrufzentrale Lüchow, was kann ich für Sie tun?“ fragt eine Männerstimme. Nadeshda stellt sich gerade hin, sie drückt den Rücken durch und sagt mit zitternder, aber fester Stimme: „Mein Großvater ist gefallen! Die Treppe hinunter!“ Man hört den Mann am anderen Ende atmen. Dann fragt er: „Ist der Patient bei Bewusstsein?“ Nadeshda nickt. Als der Mann schweigt, fällt ihr ein, dass er sie nicht sehen kann und sie sagt: „Ja! Er sitzt auf der Treppe und jammert, er hat eine Wunde am Kopf!“ Der Mann scheint irgendetwas zu notieren, es raschelt und klickt. „Bleiben Sie bei ihrem Großvater, bewegen Sie ihn nicht. Sehen Sie zu, dass er wach bleibt!“ Dann fragt er noch nach der Adresse und Nadeshda gibt Auskunft und erklärt die Zufahrt zum Hof.  Zurück beim Großvater nimmt sie seine eiskalte Hand und er lässt es einfach geschehen. Er schaut vor sich hin und redet seltsame Dinge. „Inga, meine Liebe! Die Schachtel! Du darfst sie nicht vergessen!“ jammert er. „Fridjof, mein lieber Junge, ich habe Dich nicht vergessen, Du bist mein Junge, mein lieber Junge! Wir wollen doch wandern gehen, zum Stilfser Joch wollen wir doch!“ Dann weint er wieder auf, versucht aufzustehen. Nadeshda drückt ihn vorsichtig zurück auf die Stufe. „Shhhh! Großvater, bleib sitzen, gleich kommt ein Arzt und hilft Dir.“

    Nadeshda beginnt zu schwitzen. Das Warten ist kaum auszuhalten. Die Minuten dehnen sich zu Stunden, und während der Alte redet und jammert, schaut sie auf das Blut auf ihren Beinen und lauscht mit klopfendem Herzen nach dem Krankenwagen. Dann hört sie Schritte in der Diele, jemand ruft. Das Mädchen springt auf, der Großvater schreit und rutscht neben ihr zur Seite. Dann sind die Männer in den weißen Hosen und mit den roten Jacken bei ihnen. Ihre Stimmen sind laut, sie fragen in ungerührter und etwas grober Art den Alten aus. Wie er heißt, ob er aufstehen kann, wo es weh tut. Nadeshda steht daneben und zittert. Die Sanitäter helfen dem Großvater auf, ein Bein knickt dabei weg, der Alte schreit. Nadeshda presst beide Hände vor den Mund, sie kann es kaum ertragen, den Großvater so schwach und hilflos zu sehen. Dann liegt der alte Mann endlich auf einer Trage. Der Notarzt ist mittlerweile eingetroffen und redet ruhig und bestimmt auf Nadeshda ein. Man wird ihren Großvater mitnehmen. Er muss beobachtet werden, vielleicht ist auch ein Bein gebrochen. Die Wunde an der Stirn ist schon mit einem Pflaster versorgt, das weiß und rein mit ein bisschen Blut auf dem seltsam grauen Gesicht des Großvaters klebt.

    Dann tragen die Männer den stillen, alten Mann durch die Diele aus dem Haus. Sie schieben ihn mit einem lauten Ratschen in den Krankenwagen. Wie ein Raumschiff steht das Gefährt mit blinkenden Lichtern und piepsenden Geräten im Hof unter dem Schleppdach und Freya, die Hündin, läuft schnuppernd zwischen den Menschen umher und wedelt mit dem Schwanz. Die Türen schließen sich mit einem Klappen, der Notarzt steigt in sein Auto. Dann rollen sie vom Hof. Nadeshda steht vor der Tür und denkt: Ich hab nicht gefragt, wo sie ihn hinbringen. Dann fängt sie an zu weinen.

←Vorherige Seite
1 2 3 4
Nächste Seite→

Proudly powered by WordPress