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  • Elf

    September 28th, 2023

    Krochowski fährt durch den hellen, sonnigen Tag, vorbei an Supermarkt und Tankstelle, Wiesen und Feldern. Sein Kopf summt, in seinem Magen ist ein Knoten. Um einer Arbeit nachzugehen, hat er schon lange nicht mehr das Haus verlassen. Mit Menschen Dinge tun müssen, das war noch nie seine Welt. Als er die große Gefährtin fuhr, seine knallrote 189er Lok, da war er allein, und das war gut. Krochowski ist gern allein.

    In Branden lenkt er seinen Ford an den klapprigen Staketenzaun und parkt auf dem Gras-Streifen an der Straße. Ächzend steigt er aus, die Tür des Wagens quietscht, als er sie zuschlägt. Mit schweren Schritten geht er auf sein Haus zu und während seine Hand nach dem Schlüssel in der Hosentasche kramt, macht er auf den Treppenstufen ein in Zeitung eingeschlagenes Paket aus. Krochowski bückt sich und schaut. Das Päckchen ist nicht schwer, er nimmt es an sich, schließt klappernd die Tür auf und geht in die Küche. Dort legt er das Paket auf den Küchentisch, hängt den Schlüssel an den Haken und füllt sich ein Glas Wasser am Spülstein. Gierig trinkt er, sein Mund ist trocken nach all der Aufregung. Dann geht er zum Küchentisch und blickt versonnen auf das Päckchen. Er reißt das Papier auf und sieht hinein: Es sind Radieschen, noch sandig und mit fleischigen, stacheligen Blättern daran. Die Erde rieselt raschelnd auf den Küchentisch. Krochowski lächelt. Michael Wildner hat ihm die erste Ernte vorbeigebracht. In seinem Garten wachsen Möhren und Radieschen, Erdbeeren und Kartoffeln. Die kleinen roten Kugeln sind die Ersten, die im Frühling aus der Erde schauen. Krochowski holt Butter und Brot, ein Holzbrett und eine Dose Bier. Er bestreicht das Brot mit Butter und belegt es mit Radieschenscheiben. Als er das Salz darauf streut, beginnen die Scheiben sofort zu schwitzen, sie bilden kleine, runde Wasserperlen. Krochowski beißt ein Stück ab und kaut. Der Geschmack von Butter und Brot und scharfem Rettich mischen sich in seinem Mund. Es schmeckt gut. Nach Frühling. Er spült sein Mahl mit einem Schluck Bier hinunter und lehnt sich zurück. Das Essen tröstet und er spürt, wie er sich beruhigt.

    Während Krochowski isst, streicht er mit seinen Hände über die sandigen Zeitungsblätter. Er beginnt, ein wenig zu lesen. Ein Motorradfahrer wurde ohne Führerschein erwischt. Der Bürgermeister hat einen Kindergarten eröffnet. Die Fußballmannschaft hat haushoch gewonnen. Krochowski nickt. Von Michael Wildner hat er gehört, dass die Brandener gut spielen. Er blättert um, schaut weiter. Links unten auf der Seite zwei Anzeigen. Eine Bürokraft wird gesucht und dann fällt ihm ein Wort ins Auge, dass er noch nie gelesen hat: „Urnenträger.“ Krochowski verlagert das Gewicht auf dem Stuhl und beugt sich vor. „Wir, die Firma Steinhauer und Berger, sind ein Familienunternehmen“. liest Krochowski. „Zum nächstmöglichen Zeitpunkt suchen wir Sarg- und Urnenträger.“ Dass eine Beerdigung eine bedeutende und wichtige Angelegenheit sei, liest Krochowski noch und dass ein Sarg- und Urnenträger dazu beitrage, dass dieses Ereignis würdevoll und individuell geschehen könne.

    Krochowski legt seine Hand auf das Papier und schaut an die Wand. Urnenträger. Er stellt sich einen schwarzen Anzug vor, weiße Handschuhe. Stille. Ruhe. Vielleicht leises Weinen. Er sieht einen Sarg, eine grüne Wiese, ein rechteckiges Loch.

    Krochowski beißt in sein Radieschenbrot, es schmeckt ihm gut. Das Bier ist schön kalt und perlt in seinem Mund. Er schiebt die Zeitung beiseite, der Sand hat eine kleine Düne neben der Mahlzeit gebildet.

  • Zehn

    September 18th, 2023

    Nadeshda singt. Aus dem Radio plärrt ein Schlager. „Marmor, Stein und Eisen bricht“ singt der Sänger, und Nadeshda singt mit. Die Sonne scheint durch die weit geöffneten Fenster der Wohnung und Nadeshda hantiert mit Lappen und Zeitungen. „Bei Sonnenschein lass das Fensterputzen sein!“ doziert der Großvater, der auf einem Stuhl sitzt und zur Musik mit dem Fuß wippt. Sonne macht Schlieren auf die Fensterscheiben, sagt der Großvater und nickt und hebt und senkt den Zeigefinger zu seinem Vortrag. Aber Nadeshda lacht und küsst ihm auf den schlohweißen Kopf und wischt und wienert. Alte Zeitungen knüllt sie zu großen Bällen und reibt damit fest, bis die Scheiben blitzen. „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür“, singt Marianne Rosenberg und Nadeshdas helle Stimme klingt bis hinunter auf die Straße.

    Freya, die Hündin, hat sich majestätisch neben dem Großvater niedergelassen. Ihr Fell glänzt kupferfarben in der Frühlingssonne, ihre Locken breiten sich über dem Holzfußboden aus, den Kopf hat sie auf ihre Pfoten gebettet. Ab und zu hebt sie müde die Lider und schaut ergeben dem bunten Treiben zu.

    Zum Mittagessen gibt es Gemüsesuppe, Brot und einen Rest Sauerkraut. Die gelöste Stimmung hält sich, bis der Großvater sich zu einem Mittagsschläfchen in sein Zimmer zurückzieht und Nadeshda bricht mit Freya zu einem langem Spaziergang auf.

    Hinter dem Garten des Großvaters steht ein verlassener Hof. Das große Vierständerhaus sieht aus wie eine zahnlose Alte. Überall klaffen Löcher, das große grüne Scheunentor ist angenagt vom Zahn der Zeit, Tiere haben sich, um ins Haus zu gelangen, Mulden in den Sand unterm Tor gegraben. Rund um das Haus blüht die alte Frühlingspracht, die die Hände einer Bäuerin einmal hier gepflanzt haben. Akeleien strecken ihre zarten Blätter in den Frühlingswind, Lungenkraut und Stockrosen treiben schon aus. Wie schön muss der Hof einst gewesen sein, den seine großzügigen Nebengebäude zu einem Viereck einrahmen. In der Scheune haben im letzten Sommer die Füchse ihren Wurf großgezogen, Nadeshda sah die Füchslein auf der Wiese hinterm Hof in der Abendsonne herumtollen.

    Seit Freya bei Nadeshda lebt, haben das Mädchen und der Hund sich einen Pfad über die Wiese hinter dem alten Hof getreten. Er verläuft diagonal vom einen Ende zum anderen, hin zum Wald mit den großen Erlen und zum Trafotürmchen, an dem schon längst keine Kabel mehr hängen. Hier beginnt der große Spaziergang, der weiterführt über Wiesen, an dem Weiher mit den Blesshühnern vorbei und auf dem fast zugewachsenen Wirtschaftsweg durch die Felder. Stundenlang können sie so laufen, vorbei an kleinen Dörfern, über Entwässerungsgräben und Wiesen hinweg. Freya setzt ihre Schritte elegant und leicht, Nadeshda läuft fröhlich durch die Frühlingsluft und hängt ihren Gedanken nach. Der Großvater ist freundlich heute. Beim Morgenspaziergang war er für ein Schwätzchen mit den Nachbarn stehengeblieben und hatte fröhlich und gelöst geplaudert. Seine Stimme klang warm, er erkundigte sich nach dem kranken Vater der Nachbarin und lobte den gepflegten Gemüsegarten. Nadeshda ist froh. Wenn der Großvater zufrieden ist, ist sie es auch.

    Im Augenwinkel bemerkt das Mädchen, das vor sich hin ins Gras geblickt hatte, eine rasche Bewegung. Ein kupferfarbener Blitz jagt von hinten an ihr vorbei übers Feld. Nadeshda hebt erschrocken den Kopf und schaut. Rehe! Weit, weit hinten auf dem Feld laufen und springen sie davon und Freya, die schöne Hündin hetzt übers den Ackerboden, das die Dreckklumpen fliegen. „Freya! Freya hier!“ Nadeshda rennt und winkt und schreit, doch die Ohren der Hündin sind taub für ihre Herrin. Ihr Wollen und Sein ist jetzt die Jagd, kein Ruf kann sie stoppen. Bald schon sind die Rehe hinter der nächsten Kuppe verschwunden und bald schon ist Freya ihnen gefolgt. Nadeshda rennt, aber sie ist viel zu langsam für diese wilde Jagd.

    Sie steht mit hängenden Armen auf dem Feld und weint. „Freya!“ Nadeshda ruft und läuft, aber der Hund ist verschwunden. Der Bauer kommt auf seinem Schlepper vorbei und hupt und winkt. „Runter von meinem Acker, Mädchen!“ schreit er und Nadeshda stapft durch die schwere Erde zurück auf den Weg. Dann rennt sie nach Hause und wirft sich auf ihr Fahrrad. Sie fährt die Wege ab, die der Hund kennt, sie ruft und lockt. Immer weiter entfernt sie sich vom Hof des Großvaters, aber Freya bleibt verschwunden. Nadeshda fährt mit dem Auto die Kreisstraße entlang, die Augen auf den Böschung geheftet, im Herzen die Angst, ein kupferfarbenes Lockenhäufchen am Rande liegen zu sehen. Doch Freya ist verschwunden.

    Den Großvater hat die gute Laune verlassen, als Nadeshda in der kühlen Frühlingsdämmerung nach Hause kommt. Mutlos steigt sie aus dem Auto, und resigniert hört sie sich die strengen Mahnungen des Alten an. Voller Kletten ist ihr Pullover, weil sie auf der Suche ins Unterholz kroch. Müde ist sie und so traurig. Freya…

    Nach dem Abendessen mit dem mürrischen Großvater steigt sie noch einmal die Treppe in die Diele hinunter und geht auf den Hof. Und dort liegt das treulose Tier. Voller Kletten und Grassamen, zerzaust, schmutzig und würdevoll. Nadeshda schimpft und zaust und herzt den Hund und holt die große Bürste, um die Königin der Jagd von ihrem Dreck zu befreien.

  • Neun

    September 12th, 2023

    Krochowski schaltet den Fernseher aus. Draußen ist es dunkel geworden, und das blaubunte Licht des Geräts hat hektische Schatten an die Wände geworfen. Nun ist es dunkel. In der Küche über dem Herd brennt noch ein kleines Licht. Krochowski tappt barfuß dorthin, steht dann gedankenverloren im Lichtkreis. Sein dünnes, lockiges Haar steht wirr von seinem Kopf ab. Er greift nach der zerknitterten Tablettenschachtel, fingert den Blister heraus und drückt eine kleine, weiße Tablette aus dem Plastik. Bitter liegt die Pille auf der Zunge, kratzig rutscht sie langsam den Hals hinunter, als Krochowski mit Wasser aus dem Hahn nachspült.

    Krochowski geht pinkeln, dann steigt er die knarrende Treppe ins Obergeschoss. Im Schlafzimmer schiebt er mit den Füßen den Bettvorleger mit den plattgetretenen Fransen zurecht, dann lässt er sich ächzend auf die Matratze sinken. Kurz sitzt er da und schaut, dann legt er sich hin zieht die Decke über sich und legt die Hände auf die Brust. Er schaut an die Decke, auf der die Straßenlaterne ein Fenstermuster malt. Die Stille im Haus ist so laut, dass ihm die Ohren dröhnen. Das Haus ist eine Blase aus Einsamkeit, und er ist darin gefangen. Die Einsamkeit ist dunkelblau und hart. Sie ist um ihn herum und in ihm. Die Einsamkeit rumort in seinem Bauch, es fühlt sich ein bisschen an wie Übelkeit. Katrin. Warum hatte sein Nachbar nach ihr gefragt? Krochowski hatte sie fast schon vergessen. Ihre dralle Gestallt, ihr Lachen, ihre Wutausbrüche. Nun war sie wieder da, schwebte als Erinnerung unter der Zimmerdecke.

    Krowochwski seufzt und dreht sich auf die Seite. Eine Hand legt er unter seine Wange. Er denkt an Morgen. Er muss zum Jobcenter. „Wir wollen über berufliche Perspektiven sprechen“ stand in dem Schreiben. „Bitte bringen Sie Belege für Ihre bisherigen Bemühungen um eine Arbeitsstelle mit.“ Pah. Berufliche Perspektiven für einen Lokführer, der sich einpisst, wenn ein Mädchen auf die Straße fällt. Krochowski seufzt wieder und wälzt sich auf die andere Seite. Was soll das bringen?

    Am nächsten Morgen sitzt er gewaschen und gekämmt auf einer der zweckmäßigen Plastikstühle im Flur des Jobcenters. Im Zimmer A211 arbeitet seine Sachbearbeiterin. Er ist pünktlich, und wie immer, wenn er einen Termin hat, weiß er nicht, ob er klopfen oder warten soll. Einmal hat er geklopft und die Sachbearbeiterin hat gerufen: „Einen Moment, ich rufe sie gleich auf!“ Seither sitzt er zu den Terminen still auf dem Stuhl vor dem Zimmer und fragt sich, ob er sich nicht doch lieber bemerkbar machen sollte. Seine Füße stehen auf dem graugelben Linoleum, dessen Marmorierung aussieht, als hätte jemand versucht, etwas ekliges mit den Füßen zu verwischen. Das Neonlicht der Deckenleuchten spiegelt sich in der glänzenden Oberfläche. Es riecht nach Staub und Papier und nach Kaffee.

    „Herr Krochowski, da sind sie ja! Warum kommen Sie denn nicht einfach rein?“ Die Mitarbeiterin des Jobcenters hat die Tür geöffnet, nun steht sie da und winkt ihn zackig in ihr Büro. Krochowski steht auf, streicht sich die Hose glatt und folgt der Frau. Er setzt sich auf die Kante des angebotenen Stuhls und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Nüchterne hellgraue Möbel, ein Kalender mit einer Baumreihe, eine Tasse mit Katzenmotiv, eine kleine Blume mit roten Blüten in einen Topf mit aufgemalten Lach-Gesicht.

    Die Sachbearbeiterin blättert in seiner Akte. Lauter graubraune Blätter in einer roten Mappe aus Karton. Dann tippt sie auf ihrer Tastatur, blickt auf den Bildschirm. Sie räuspert sich und sagt, ohne ihn anzublicken: „Herr Krochowski, sie leben seit drei Jahren im Landkreis und beziehen Leistungen des Jobcenters. Haben Sie seit unserem letzten Termin Ideen entwickelt, wie Sie zurück in den Arbeitsmarkt kommen können?“ Krochowski rutscht auf dem Stuhl hin und her, unter seinen Achseln hat sich eine unangenehme Feuchte ausgebreitet. „Nein“, sagt er und blickt auf seine Schuhe. Und dann noch: „Keine Idee.“

    „Herr Krochowski, Sie sind 52 Jahre alt. Sie haben bis zur Rente noch ein weites Stück zu gehen, und ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Solidargemeinschaft im Moment für Ihren Unterhalt aufkommt.“ Die Frau blickt ihn streng an. Unter ihrem gelben Häkelpulli zeichnen sich ein enges Unterhemd und ein paar Speckröllchen ab. Sie raschelt in den Unterlagen und murmelt: „Dienst bei der Nationalen Volksarmee, Lokführer bei der Deutschen Bahn… keine weitere Qualifikation?“ Sie schüttelt langsam den Kopf und blickt ihn schließlich an.

    „Es gibt eine neue Wiedereingliederungsmaßnahme. Sie können sich zum Garten- und Landschaftsbauer ausbilden lassen. Die Maßnahme startet am 1. Mai, und ich werde Sie dort anmelden.“ „Aber…“ Krochowski macht den Mund auf, dann klappt er ihn wieder zu. Er denkt an den Garten um sein Haus, an die wuchernden Brennnesseln und den Efeu am Schuppen.“ Ein bisschen Gesellschaft werde ihm gut tun, sagt die Sachbearbeiterin. Im Übrigen habe er keine Wahl: „Wenn Sie zu der Maßnahme nicht erscheinen, wird das rechtliche Konsequenzen haben, Herr Krochowski.“ Die Frau hebt den Kopf und fragt: „Wissen Sie, was das heißt?“ Krochowski verneint stumm. „Das heißt, dass wir unsere Zahlungen an Sie einstellen.“ Dann steht sie auf, geht zur Tür und schaut ihn auffordernd an. Er scheint fertig zu sein. Krochowski verheddert sich beim Aufstehen mit dem Schuh an einem Stuhlbein. Er befreit sich und tappt hinaus.

    Dann steht er auf dem grauen Parkplatz vorm Jobcenter. Gesellschaft. Menschen. Gartenbau. Zahlungen einstellen. Sein Herz zieht sich zusammen. Das geht nicht, das kann er nicht. Er steigt in seinen alten Ford und rettet sich. Nach Hause.

  • Acht

    September 7th, 2023

    Die Hündin tappt benommen aus ihrer grauen Transportbox. Gerade ist Tante Marja mit dem Wagen aus München gekommen. Die weite Reise hat das große, kupferrote Tier mit den schönen Locken sediert im Kofferraum verbracht. Nun läuft es staksig auf langen Beinen über das rissige Pflaster des Hofes. Nadeshda hockt sich auf den Boden und lockt mit süßer Stimme: „Komm, Mädchen, komm zu mir!“ Als das Tier sich müde neben sie fallen lässt, vergräbt sie ihre Hände in den eleganten Locken der Setterhündin. Tante Marja hat sich eine Zigarette angezündet und blickt amüsiert auf das traute Bild. „Ich fahre morgen wieder, wie lange kannst Du sie nehmen?“ Nadeshda blickt auf. „So lange Du möchtest“, sagt sie und lächelt die Hündin an. Eine Gefährtin. Ganz allein für sie. Sie fühlt sich wie ein glückliches Kind und möchte hüpfen und singen. Selbst der Großvater, der die Treppe aus der Wohnung herabgestiegen kommt, blickt gütig und zufrieden. „Freya, guter Hund“, lobt er und klopft der Hündin mit dem Stock die Flanke. Dann geht er davon in den Garten. Tante Marja packt Tüten mit Hundefutter, ein großes weiches Hundekissen, Leine und Spielzeug unter das Schleppdach der Scheune. Dann geht sie zum Großvater in den Garten. Nadeshda lässt den müden Hund im Hof zurück und steigt hinauf in die Turnhalle. Ihre Schläge gegen den Boxsack hallen bis hinunter in den Hof, die Klimmzüge gelingen zackig und schnell.

    Beim Abendessen herrscht gelöste Stimmung. Nadeshda hat mit Tante Marja Wildkräuter hinter der Scheune gesammelt. Jungen Löwenzahn, Knoblauchrauke und Brennnesselsprossen. Daraus gibt es einen feinen Salat, dazu Nüsse, ein wenig trockenes Brot und eine Apfelsaftschorle. Das Essen ist fein, und es ist schön, wie sie friedlich zusammensitzen. Der Großvater berichtet der Tante vom Arztbesuch und dass der Doktor seine Blutwerte bedenklich fand. „Mach dem Großvater mehr Brennnesseltrunk“ sagt Tante Marja. Nadeshda seufzt. Die Wiesen ums Haus sind abgegrast bei all den Brennnesseln, die sie bereits gesammelt und durch den Mixer gejagt hat. Aber Eisenkapseln kommen dem Großvater nun mal nicht ins Haus. „Was die Natur geschaffen hat, das soll der Mensch nutzen!“ Der Großvater hebt den schrundigen Zeigefinger und nickt. Am nächsten Morgen braust Tante Marja nach knapper Verabschiedung vom Hof. Nadeshda und Freya stehen zusammen unter dem Schleppdach und schauen ihr nach. Dann legt das Mädchen eine Hand auf den Kopf der Hündin und blickt sie einladend an. „Komm“, sagt sie. Mädchen und Hund streifen durch die Wiesen, die gleich hinter dem Hof des Großvaters beginnen. Das erste grüne Gras kämpft sich durch die alten winterblassen Halme, Löwenzahn und Veilchen blühen und die Kopfweiden am Graben haben zarte Frühlingsblättchen angesetzt. Nadeshda spaziert über die Wiese, leicht sind ihre Schritte, und die Hündin weicht ihr nicht von der Seite. Als sie am Eichenwäldchen ankommen, fängt Freya an, sich zu entspannen. Sie trabt elegant los, wittert hier und da und hält Ausschau nach Rehen und Kleinwild. Das rotblonde Fell weht elegant im milden Frühlingswind. Im Unterholz blühen Buschwindröschen in einem dichten grünweißen Teppich. Die beiden drehen eine große Runde entlang der kleinen Straße, die durch die Felder nach Paskewitz führt. Immer weiter führen die Schritte vom Hof des Großvaters weg, und mit jedem Schritt fühlt Nadeshda, wie das Gewicht auf ihren Schultern kleiner wird. Auf einer Wiese vor Paskewitz weiden Schafe mit ihren Lämmern. Neugierig kommen sie zum orangen Elektrozaun und heben ihre weichen Nase und blicken mit ihren seltsamen Augen zu Nadeshda und der Hündin. Das Mädchen sinkt am Zaun ins Gras Sie streckt sich aus und blickt in die Zweige, die den Himmel in ein Muster unterteilen. Lange liegt sie da und kaut auf einem Grashalm und spielt mit dem Fell der Hündin, die sich neben sie gelegt hat. Als es kühl wird, weil die Sonne ihre Kraft verliert, erhebt Nadeshda sich und macht sich auf den Heimweg. Der Großvater wird schelten, sie war zu lange fort.

  • Sieben

    August 29th, 2023

    Am Mittwoch füllt Krochowski seinen Kühlschrank auf. Im Supermarkt mit den breiten Gängen und den aufgestapelten Dosen und Schachteln stapelt er die üblichen Lebensmittel achtlos in seinen Wagen. Zuunterst eine Palette Bierdosen und ein Sack Kartoffeln, dann etwas Milch, ein Päckchen Kaffee, Leberkäse und Fertiglasagne und weil er in Verschwenderlaune ist, noch zwei große Plastikbecher mit Pudding. 

    Zuhause schleppt er seine Tüten und Taschen ächzend in die Küche. Dann steht er vor der Jagdbeute, zerrt ungeduldig das Kühlgut heraus und stopft es in den Kühlschrank. Die Kartoffeln landen in der kleinen dunklen Speisekammer. Krochowski schaltet den Backofen an und reißt die Folie von der Aluminiumverpackung des Leberkäses. Eine Dose Bier stellt er in das Tiefkühlfach seines Kühlschranks, direkt neben die Flasche Aquavit, die sich an den dicken Eispanzer des Kühlfachs schmiegt. Dann setzt er sich auf die Treppenstufen vor seiner Küche und blinzelt in die Sonne. Im Vorgarten lehnt sich braungraues Gras an einen alten Rover. Krochowski hatte ihn vor Ewigkeiten geschenkt bekommen und eigentlich sanieren wollen. Aber dann fand er nach langem Suchen heraus, dass das Ding nur mit großen Kosten wiederzubeleben war, die Zylinderkopfdichtung war Schrott. Er hätte den Wagen längst entsorgen sollen, aber ach. 

    Von drinnen wabert der Geruch nach gebackenem Fleischbrei in den Garten. Essenszeit. Krochowski geht in die Küche und wühlt in der Schublade nach Messer und Gabel. Er hebt das Gericht mit einem Küchenhandtuch aus dem Ofen, setzt sich an den Tisch und schneidet mit dem Messer Scheiben aus dem Fleisch. Dann gabelt er die Brocken direkt aus der Form. Heiß! Er steht auf und holt sich die Bierdose aus dem Eisfach. Zischend löst er den Verschluss und trinkt, sich verschluckend ein paar hastige Schlucke. Bier und Fleischkäsebrocken mischen sich in seinem Mund. Er schluckt und sieht aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite beginnt der Kiefernwald. Struppige Heide und ein paar Blaubeerbüsche wachsen am Boden um einige Halden Bauschutt, die pflichtvergessene Mitbürger dort abgeladen haben. Ein dicker Brocken Mauerwerk ragt aus dem Unterholz, neben einem Ofenrohr haben sich Buschwindröschen ausgebreitet. 

    Nach dem Essen überfällt Krochowski eine große Müdigkeit. In allen Gliedern spürt er die Schwere. Er gibt sich einen Ruck und wirft die Aluform in den Müll, die Bierdose nimmt er mit ins Wohnzimmer. Er stellt sie auf den Tisch mit den vielen glänzenden Ringen auf der Funierplatte und legt sich seufzend auf das alte grüne Sofa. Seine Schuhe lässt Krochowski an den Füßen. Damit das Sofa nicht schmutzig wird, lässt er seine Beine über die Lehne baumeln. Er schließt die Augen und fällt in einen unruhigen und doch traumlosen Schlaf. 

    Ein Pochen weckt ihn und dann das Knallen der Küchentür. „Klaus! Darf ich reinkommen?“ Krochowski rappelt sich auf und reibt sich die verklebten Augen. Michael, sein Nachbar, hat die Antwort auf seine Frage nicht abgewartet und steht schon im Wohnzimmer. Die blaue Latzhose spannt über dem prallen Bauch, darüber strahlt ein weißes Shirt. Michaels Frau Uschi hat ihren Haushalt im Griff. Eine Wolke aus Waschmittelduft und Fröhlichkeit umweht den dicken, großen Mann. Um seine Füße schnurrt der kleine getigerte Kater, der Michael Wildner immer begleitet. Der Nachbar liebt es, am Nachmittag bei Krochowski einzukehren. Auf ein Wort und ein Bier. Krochowski brummt und stellt die Beine auf. Ein Fuß ist eingeschlafen, er bewegt im Schuh seine Zehen. Dann steht er vorsichtig auf und schlurft am Nachbarn vorbei in die Küche. „Bier?“ fragt er und holt, ohne eine Antwort abzuwarten, zwei Dosen aus dem Kühlschrank. Dann schlurft er weiter, den duftenden Michael im Schlepptau, raus in den Garten. Die Männer setzen sich auf die Treppe, halten ihr Bier in der Hand und lassen den Daumen unter die Ringe der Dosen gleiten. Zisch. Andächtiges Schweigen, dann trinken die Zwei. „Mal was von Katrin gehört?“ Michael Wildner blickt geradeaus in den Wald, als er fragt. „Seit Monaten nicht“, brummt Krochowski. Er trinkt einen Schluck und setzt nach: „Gut so.“ 

    Der Kater sitzt wie eine Statue neben Krochowski auf der obersten Stufe der Küchentreppe und miaut gepresst. Die Spatzen im Gebüsch auf der anderen Straßenseite fesseln ihn. Dann plötzlich, als wäre ihm etwas eingefallen, entspannt er sich, klettert auf Krochowskis Schoß und rollt sich dort zu einem flauschigen Kringel zusammen. Über das bartstoppelige Gesicht Krochowskis legen sich tausend Fältchen, die am tiefsten um die Augen sind. „Du Schnurrheimer“, sagt Krochowski und legt eine Hand auf das Tier.

  • Sechs

    August 22nd, 2023

    Nadeshda hängt an der Reckstange und blickt gegen die Giebelwand der Scheune. Auf ihrer Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Ihre Lippen sind entschlossen zusammengekniffen, ihr Gesicht ist Wille und Konzentration. „Schlampe“. Ihre Armmuskeln spannen sich, sie zieht sich hoch, hängt unter der Stange, lässt konzentriert und sehr langsam wieder los. „Undankbar“. Sie zieht sich hoch, die Beine hängen angewinkelt unter ihr. „Brut“. Hepp, hepp, hepp. Drei rasche Klimmzüge hintereinander. Dann schwingt sie sich an langen Armen nach vorn, springt und landet mit federnden Knien auf der Turnmatte. Um ihre Stirn haben sich Löckchen gelöst, der strenge Pferdeschwanz hängt zum Zopf geflochten über den Rücken. Sie geht zur Langhandel, hockt sich hin, greift weit auseinander. Ihr Blick klebt an der Bretterwand, sie atmet ein. Dann ein Ruck und sie steht auf. Die Muskeln ihres Rückens, ihres Gesäßes spielen, der Schweiß läuft in Bächen über ihren schmalen Rücken. Die Hantel ist oben. Sie spielt mit ihr, lässt sie sinken und steigen. Sie hat Kraft. Sie ist unbesiegbar. Sie ist unverletzlich. 

    Unten quietscht die Holztür, die erste durchgetretene Diele knarrt, dann ist es still. Nadeshda hält den Atem an. „Kind!“ schallt es von unten mit der blechernen Stimme des Alten. „Hast Du fertig geturnt? Beeile Dich, ich brauche Dich im Garten!“ Die Falte auf Nadeshdas Stirn geht, ihr Gesicht wird weich. „Ja Großvater, ich komme.“ Die Hantel knallt auf den Bretterboden. Die junge Frau  wischt sich den Schweiß mit einem alten Frotteehandtuch mit Blumenmuster aus der Stirn und steigt mit Rehbeinen die schmale Holzstiege hinab. Unten steht der Alte, er hat den Stock dabei. Ungeduldig spielt die Stützhand mit dem Griff, die Finger öffnen und schließen sich. „Darf ich noch duschen?“ fragt Nadeshda und sieht zu Boden, vorbei an den nassen Shorts. „Bitte tu das“ schnarrt der Alte und hinkt in den Garten. „Aber beeile Dich, ich warte.“ Seine Schritte sind klock-schlurf, klock-schlurf, als er über den Hofplatz zum Garten geht. 

    Unter der Dusche lässt Nadeshda sich kochend heißes Wasser über den Rücken laufen. Ihr Herz fängt in der Hitze an zu rasen, sie schrubbt sich mit dem Plastiknetz, in dem der Großvater Seifenreste sammelt, bis ihre Haut knallrot ist. Das Rauschen des Wassers, die Hitze, der Dampf, sie beruhigt sich, sie atmet. Dann steigt sie rasch aus der Dusche. Sie trocknet sich ab, steigt in Slip, Jeans und T-Shirt und eilt die Holztreppe hinunter, durch die Diele und in den Garten. Dort sitzt der Alte auf einem Plastikstuhl und tappt mit dem Fuß. Tapp-tapp, tapp-tapp. „Da bist Du. Nun.“ Er krallt sich den Stock und erhebt sich, ohne ein Geräusch zu machen. Seine krummen Beine zittern, sein Arm bebt, doch keine Klage verlässt seinen Mund. „Hole Grabegabel und Rechen, Kind“, sagt er und weist zur Gartenscheune. Nadeshda nickt und läuft. „Nicht die, die kleine, mit dem roten Griff“, sagt der Alte. Nadeshda nickt und läuft zurück. Im Gemüsegarten des Großvaters hat alles seine Ordnung. Dicke Betonplatten liegen auf den Wegen, die Beete sind säuberlich abgeteilt. Jetzt, im Frühling, wuchern Vogelmiere und Löwenzahn auf den Flächen. Ein paar Salatpflänzchen haben sich im Sommer ausgesät und sind schon gekeimt, sie wachsen in Fugen und Ritzen und sehen so hoffnungsvoll aus, dass Nadeshda sich wünscht, der Großvater möge sie nicht zwingen, sie auszureißen. 

    Der Großvater ist vorausgegangen zu einem langen Beet in der Mitte des Gartens. Hier steht er und stupst mit dem Stock den Löwenzahn an. „Das muss alles weg! Nicht untergraben! Rausreißen!“, ruft er und fuchtelt mit der freien Hand in der Luft. Nadeshda nickt und reißt an einem Löwenzahn. Mit einem „knack“ gibt die dicke Wurzel nach und Nadeshda hält die Pflanze nur halb in der Hand. „Aber Kind!“ ruft der Großvater, „doch nicht so!“ Er reißt ihr die Grabegabel aus der Hand und taumelt. Die stützende Hand der Enkelin wehrt er unwirsch ab. Dann treibt er die Gabel in die Erde und reißt am Griff. Fette Erdkrumen lösen sich und ein goldgelber, saftiger Löwenzahn kippt in die Waagerechte. Er nimmt die Pflanze mit seinen weißen, knorrigen Altmännerhänden und schüttelt sie, dass die Klumpen ins Beet purzeln. „So.“, sagt er zufrieden und wirft das Ärgernis auf den Weg. „Weitermachen“, blafft er und hinkt zurück auf seinen Stuhl am Eingang des Gemüsegartens. 

    Die Sonne scheint vom Frühlingshimmel und Nadeshda arbeitet. Sie setzt den Fuß auf die Grabegabel, tritt fest zu und hebt Löwenzahn und Quecke und Vogelmiere aus der dicken, schwarzen Gartenerde. Regenwürmer und Maikäferlarven winden sich in ihren Händen. 

    Dann sinkt die Sonne hinter die hohe Gartenhecke. Nadeshda hat das Beet befreit, die Krume liegt nackt und bloß unter der Abendsonne, die herbeigeholte Schubkarre ist voll von wilden Kräutern. Der Großvater ist zufrieden. Seine Hände wühlen in der Erde, mit den Knien liegt er auf der Beetumrandung und nickt. „Gut, Kind.“ Nadeshda fährt das Unkraut auf den Kompost. Die Schubkarre ist schwer, aber das kümmert sie nicht. Sie hat Kraft. Sie ist stark. Sie ist unverletztlich. 

  • Fünf

    August 14th, 2023

    Krochowski isst. Er hat sich aus kalten Nudeln vom Vortag und den letzten Eiern ein schnelles Essen bereitet und mit der Ketchupflasche lustige Streifen darauf gemalt. Er hat frische Unterhosen an, das Hosenpaar mit dem nassen Bein liegt als graues, kümmerliches Häufchen vor der Waschmaschine und seine dünnen, weißen Beine ragen nackt und in Filzpantoffeln unter den Tisch.

    Während er langsam kaut, wühlen die Gedanken in seinem Kopf. Das Mädchen. Die Straße. Der Sturz. Die Erinnerungsfetzen tauchen wie spitze Zähne aus seinem Unterbewusstsein auf. Krochowski stöhnt. Es gibt kein Entrinnen. Er schließt die Augen und sieht sich in der Kanzel seiner 189er Lok. Hinter ihm tonnenschwer das Erz aus Rotterdam. Es ist ein schöner Frühsommertag. Insekten und Staub kleben draußen an der Scheibe seiner knallroten Gefährtin, die tapfer und ohne Murren den „Langen Heinrich“, den 400 Meter langen, 4.000 Tonnen schweren Güterzug, beladen mit Erz für die Eisenhütten im Saarland, durch die norddeutsche Tiefebene zieht. Durch einen Hohlweg fährt er, frisches, grünes Gras wächst an den Hängen bis herunter zu dem Schotter, auf dem die Schienen sich biegen und kreischen, wenn der Zug sie passiert. Ganz vorn, kurz vor der Brücke sieht Krochowski eine Gestalt die Böschung hinab stolpern. Sein Herz verkrampft sich. Was macht die da? Verrückt geworden? In seinem Kopf wird es kalt, er taumelt, dann reißt er den Arm hoch und leitet die Notbremsung ein. Die Lok ächzt, die Räder kreischen, doch für Krochowski geschieht das alles in Zeitlupe. Ein Mädchen ist es, eben steht sie noch, jetzt legt sie sich hin. Krochowski schreit. Er schreit so laut, dass seine eigenen Ohren klingeln. Er schreit so sehr, dass er noch Tage später keine Stimme haben wird. Das Mädchen kommt näher und näher, quälend langsam. Er sieht ihr kleines Gesicht als hellen Fleck, dann ist sie verschwunden.

    Bumm. Mit einem dumpfen Schlag landet Krochowskis Faust auf dem Tisch. Schluss. Es ist vorbei. Doch sein Herz rast, vor seinen Augen flimmert die Luft. So oft schon hat er das Gesicht des Mädchens aus dem Blickfeld verschwinden sehen, diesen kleinen hellen Fleck auf dem Schienenstrang. So oft schon hat er das Kreischen der Bremsen gehört, das Rucken und Drücken der Tonnage hinter sich gefühlt. Vorbei. Fünf Jahre schon. Doch das Elend kommt immer wieder zurück. Es schlummert in den Eingeweiden und bricht hervor, wenn es seine Chance wittert. Nie wird er vergessen, warum er kein Lokführer mehr sein kann, nie. Der Geruch von Diesel macht ihn krank. Das Geräusch eines Lokmotors lässt ihn schwitzen. Vergiftet ist alles, was aus Eisen ist und stampft. Das Mädchen ist tot, sie liegt unter der Erde und hat ihre trauernden Eltern alleingelassen. Doch Krochowski lebt weiter und isst Nudeln mit Ei und Ketchup und pisst sich ein, wenn er bremsen muss. Eine Scheiße ist dieses Leben geworden, eine verdammte Scheiße.

    Heute wird er nicht mehr einkaufen fahren, er muss sich beruhigen. Er wird in den Grünen Winkel gehen und dort zwei – drei Biere trinken, damit er nachher schlafen kann. Seine Dosen sind schon seit gestern leer. Im Grünen Winkel werden sie sich wundern, denn dienstags ist Krochowski nie dort. Sie werden ihn fragen was los ist und er wird nur finster auf den Tresen starren, den Kopf in die Fäuste gestützt und brummen. Sollen sie ihn lassen, er wird nicht reden, nicht heute.

    Krochowski nimmt den Teller mit den Ei-Nudeln und schlurft zum Mülleimer. Keinen Hunger mehr. Sollen die Maden den Scheiß doch fressen. Draußen klappert der Briefkasten. Dann hört er den gelben Kleinbus mit der munteren, drallen Postfrau davon sausen. Post? Er greift eine Hose, die über dem Küchenstuhl hängt, streift sie über, dann nimmt den Briefkastenschlüssel vom Haken neben der Tür und schlurft barfuß zum Zaun. Quietschend öffnet sich das kleine Blechtürchen. Ach. Krochowski wendet das Umweltpapier in den Händen. Vom Jobcenter. Ach. Er schlurft zurück in die Küche und wirft den Umschlag auf den Tisch, neben einen dicken Ketchupfleck.

  • Vier

    August 8th, 2023

    Nadeshda setzt sich in das Auto, fährt rückwärts aus dem Carport, wendet und hält vor der Haustür. Da steht der Großvater, kerzengerade, das weiße Haar umflort seinen Kopf. Den Stock hält er fest in der knotigen Hand. Einkaufen will er, und zum Arzt müssen sie, die Blutwerte abholen.

    Nadeshda wappnet sich. Der Großvater ist ein strenger Mann. Streng und unberechenbar. Immer soll sie wissen, was er erwartet und denkt, stets muss sie ihm zu Willen sein, sonst bekommt er einen bösen Wutanfall, der macht, dass sie sich fühlt wie eine Sechsjährige. Ganz klein und hilflos. „Aber heute wird alles gutgehen“, denkt sie und lächelt mutig. Dann steigt sie aus, führt den Alten um den Wagen herum, öffnet die Tür und hält ihm beim Einsteigen am Arm. Mit einer ungeduldigen Bewegung entzieht sich der Großvater ihrem Griff und lässt sich auf das Polster rutschen.

    Die Fahrt nach Lüchow legen sie schweigend zurück, nur einmal, als sie am Feld der Pohlmanns vorbeikommen, auf dem noch die Maispflanzen des Vorjahres stehen, knurrt er: „Sauwirtschaft“. Sie passieren Paskewitz, Branden und dann die alte Mühle. Kurz vor Lüchow kommen sie an einer Unfallstelle vorbei. Ein Mädchen ist mit dem Fahrrad gestürzt, ein roter Kleinwagen steht quer auf der Straße. Nadeshda muss scharf bremsen, als das Auto zurücksetzt, wendet und die Straße zurück nach Branden nimmt. Den Großvater scheint das nicht zu interessieren. Er sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut aus dem Fenster wie ein König, der eine Prozession anführt. Nadeshda wundert sich, dass der Alte nicht hoheitsvoll aus dem Fenster winkt, als sie eine Gruppe von Jugendlichen passieren.

    Der Arzt in Lüchow ist nicht zufrieden mit den Eisenwerten des Großvaters. Er zieht dem alten Mann ein Unterlid herunter und schnalzt missbilligend mit der Zunge. Dann stellt er ein Rezept für Eisenkapseln aus. Im Auto sagt der Alte: „Solche Kapseln müssen wir gar nicht abholen. Ich ernähre mich gesund, das reicht. Mach mir nachher einen Brennesseltrunk.“ Dann schaut er wieder aus dem Fenster und schweigt. Er hat schlechte Laune. Ein Mann wie er hat keine schlechten Eisenwerte.

    Sie fahren ins Reformhaus, kaufen Mandeln, Kieselalgen, Weizengrassaft. Nadeshda legt noch eine Dose Eiweißpulver in den Korb. Der Großvater rümpft die Nase, aber er zahlt ohne zu murren. Nadeshda wirft ihren Zopf in den Nacken und lächelt ganz leise. Vielleicht wird diese Fahrt gut enden.

    Doch auf dem Heimweg beginnt der Großvater, ihr eine Rede zu halten. Er fängt mit dem Eiweißpulver an, das „kein gesundes deutsches Mädchen“ brauche. Er macht weiter mit ihrer Schlaffheit, ihrer Unordnung, ihrer mangelnden Disziplin. Der Garten! Das Haus! Alles muss er alleine machen. Als alter Mann! Wenn er nicht so viel Kraft hätte, würden sie im Chaos hausen. Er fuchtelt mit den Händen, der Stock rutscht ihm von den Knien. Während er zetert, fliegen kleine Speicheltropfen durch die Luft. Sie fliegen bis nach vorn an die Windschutzscheibe, so wütend ist der Großvater.

    Nadeshda lenkt stumm den Wagen, sie muss sich konzentrieren, um nicht zu weinen. Ihre Hände umklammern das Lenkrad, sie schiebt den weichen Schaumstoff unter den Fingern hin und her, um sich abzulenken. Sie sagt im Geiste den „Prometheus“ auf, sie zählt die Linien auf der Landstraße. Dann endlich biegt sie mit dem Großvater nach Klein Schmaldau ein. Sie fahren den Holperweg auf den Hof, Nadeshda hilft dem Großvater aus dem Wagen. Der Alte hinkt zur Tür, immer noch schimpfend. „Schlampe“ hört sie, „Dreck“ und „alleine“. Sie lenkt das Auto in den Carport, und dann sitzt sie dort und kann nicht aussteigen. Nadeshda weint. Und weint.

  • Drei

    August 3rd, 2023

    Es ist Dienstag. Der Tag, an dem Krochowski einkaufen geht, denn dann, so hofft er, sind weniger Menschen im Discounter. Sie haben sich bereits am Montag die vom Wochenende leergefressenen Kühlschränke nachgefüllt. Deshalb geht Krochowski dienstags. Vor dem Haus wartet der rote Ford Fiesta auf seinen Herren, im Fond lagern leere Bierdosen und einige Plastiktüten. Das ist das Einkaufsbesteck.

    Branden liegt nicht weit von Lüchow entfernt, hier gibt es alles: Discounter, Bank, Herrenfriseur.

    Der alte Ford hustet und röhrt, Krochowski biegt auf den holperigen Sandweg vor seinem Haus ein und lenkt den Wagen am Sportplatz vorbei aus dem Dorf. Eine Einkaufsliste braucht er nicht. Dienstags isst er Leberkäse direkt aus der Aluform. Er wüsste nicht, was es besseres gäbe. Macht wenig Abwasch und schmeckt. Dazu ein kaltes Bier. Mittwochs Fertiglasagne, Donnerstag Pizza. Freitag irgendwas mit Kartoffeln. Am Wochenende geht er ins „Grüne Eck“. Die Bratkartoffeln sind passabel und die Zwiebelsuppe auch. Am Montag finden sich Reste im Kühlschrank und schon ist es wieder Dienstag und Krochowski kann seine Woche von vorn beginnen.

    Der Weg nach Lüchow führt an Wiesen und Feldern vorbei. Erster Löwenzahn blüht knallgelb auf den Weiden, Krochowski wird ein bisschen beschwipst von der ganzen Fröhlichkeit. Vorbei an der alten Mühle und dem einsamen Haus, weiter unter den alten Eichen Richtung Stadt. Die Sonne scheint schräg durch die Autofenster und lässt die Staubkörnchen tanzen. Auf dem Radweg, der neben der Landstraße entlangführt, ist eine Gruppe Jugendlicher unterwegs. Krochowski sieht sie schon von weitem albern und lachen und Schlenker fahren. Ein leiser Ärger befällt ihn. Können die nicht anständig Fahrrad fahren wie jeder Mensch? Die Hampelei, das Kreischen machen ihn wütend. Und dann geschieht es: Ein Mädchen verliert die Kontrolle über sein Rad, saust über die Böschung in Richtung Straße, stürzt und fällt, die Arme hoch über dem Kopf, schlenkernd wie eine Puppe, auf den Asphalt. In Zeitlupe, so kommt es Krochowski vor, geschehen die Dinge: Das Schlingern des Rades, das Holpern über das Gras, der Sturz. Und wie in Zeitlupe greifen auch Krochowskis Hände das Lenkrad fester, sein rechter Fuß lässt quälend langsam das Gaspedal fahren und presst sich mit unfassbar unentschlossener Lahmheit auf das Bremspedal. Die kleinen Reifen des Fiestas quietschen dramatisch, der Wagen schlingert, bricht aus, fängt sich wieder und kommt dann zum Stehen. Das Mädchen ist nicht zu sehen. Krochowski sitzt im Auto und kann nicht aussteigen. Er ist zu schwach. Seine Arme hängen schlaff herunter, seine Augen starren auf die Straße.

    Das Rad des Mädchens liegt mitten auf der Straße, eine Pedale dreht sich noch. Ein Wagen aus der Gegenrichtung hat gestoppt, eine Frau steigt aus, läuft über die Straße, bückt sich, redet. Und erst jetzt sieht er das Mädchen. Weinend betrachtet es die aufgeschürften Hände. Und da erwacht Krochowski. Er blinzelt, er seufzt. Und dann steigt er ächzend aus dem Wagen. „Das hätte auch schiefgehen können, Ihr verdammten Idioten!“ keift er in Richtung der Fahrradfahrer. Er fuchtelt und gestikuliert wütend mit den Armen. Das Mädchen und die Frau starren ihn an. Die Frau legt ihren Arm und das Kind und führt es von der Straße. Die Jugendlichen sehen ihn an, tuscheln, zeigen mit Fingern und beginnen schließlich zu lachen. Krochowski versteht nicht. Und dann sieht er an sich hinunter. Ein langgezogener Fleck dehnt sich vom Schritt das linke Bein hinunter aus. Krochowski hat sich eingenässt. Wortlos dreht er sich um, geht die paar Schritte zum Auto, setzt sich hinein und wendet. Nur nach Hause. Nach Hause.

  • Zwei

    August 3rd, 2023

    Nadeshda schwitzt. In ihrem Nacken kringeln sich blonde Löckchen, und die Schulterblätter bewegen sich rhythmisch aufeinander zu. Ein kleiner Bach aus Schweiß fließt ihren Rücken hinunter. Es ist still und kühl unter dem Dach der Scheune, nur Nadeshdas Atmen und das Klirren der Gewichte ist zu hören.

    Durch die Kunststoffplatten des Scheunendachs fällt das Sonnenlicht schräg auf den Gerätepark: Hantelbank und Turnmatte, Ergometer und Kraftmaschine warten auf Nadeshdas Kraft.

    Die Staubkörner tanzen im Licht, treiben schwerelos dahin und sind Zeuge ihres eisernen Willens. Nach der Hantelbank hängt die junge Frau sich an die Stange. Zehn Klimmzüge mit breitem Griff. Kurzes Verschnaufen und Keuchen. Ihre zarte Gestalt hängt mit angezogenen Beinen und langen Armen an der Metallstange. Dann noch einmal zehn Klimmzüge. Hopp. Ein elastischer Sprung, und sie steht auf der Matte. Der Boxsack hängt stumm, und bewegungslos, in banger Erwartung. Er ist die nächste Station.

    Während Nadeshda ihren Körper unterm Scheunendach stählt, lärmt draußen der Frühling. In den alten Eichen auf dem Hof schreien die Vögel wie von Sinnen. Die Sonne scheint von einem Himmel, der hellblau und unschuldig auf alles sieht, was geschieht. Nadeshda schert sich nicht darum. Sie trainiert, sie legt sich einen Panzer aus Muskeln zu.

    Unten, am Fuß der steilen Holztreppe sitzt die Katze und frisst eine Amsel. Ein Flügel ist noch übrig und der Kopf mit dem hübschen gelben Schnabel. Ein Auge schaut erstaunt und groß in den Frühlingstag. Die Katze rupft und kaut.

    Nadeshda weiß: Der Großvater sitzt in der Küche im Wohnhaus und wartet. Sie trainiert jeden Tag. Exakt 45 Minuten. Dann beeilt sie sich, um mit ihm in der kleinen Küche mit den Scheibengardinen den Morgentrunk einzunehmen. Eine Mischung aus rohem Ei, Weizengras, Mandelmus und Apfelsaft. Gesund ist das, es gibt Kraft. Der Großvater ist 93 Jahre alt und hält sich kerzengerade. Die Uhr tickt. 7:37. Noch acht Minuten.

    Nadeshda schlägt den Boxsack. Blitzsartig schnellen ihre Fäuste vor und wieder zurück, pfeifend geht ihr Atem dabei durch die gespitzten Lippen. Fuh, fuh-fuh. Ein Trippelschritt zurück, die Fäuste ans Kinn. Und wieder vor. Fuh, fuh-fuh. In der zarten Kuhle über dem Gesäß haben sich kleine Schweißperlen gesammelt. Sie fließen hinab und färben das Bündchen der ausgewaschenen grauen Turnhose dunkel.

    Es ist 7:43. Zeit zu gehen. Nadeshda nimmt das Handtuch vom Turnkasten und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Unten an der Treppe hat die Katze ihr Mahl beendet. Ein paar Federn und der gelbe Schnabel liegen dort, angewidert schiebt das Mädchen sich an dem Häuflein vorbei.

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