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  • Einundreißig

    Februar 3rd, 2025

    Am Freitag kommen zwei Frauen munter schwatzend ins Institut gelaufen. Eine von ihnen trägt eine große, durchsichtige Plastikkiste, in der Krochowski Tuben und Tiegel erkennt, dazu Watte und Tücher. Die beiden Frauen sind Barbara und Petra und sie sind gekommen, um eine neu eingelieferte Verstorbene „schick zu machen“, wie Barbara fröhlich verkündet.

    Die beiden verschwinden in dem weiß gekachelten Raum mit dem großen Metalltisch und machen pietätvoll winkende Bewegungen, bevor sie die Tür fest verschließen. „Wir wollen die beiden nicht stören“, nickt Herr Steinhauer. Krochowski ist das sehr recht. Auch, wenn er nun schon ein paar Wochen als Sarg- und Urnenträger arbeitet und sich an die freundlich-aufgeräumte Stimmung im Institut gewöhnt hat, ist er scheu und ängstlich, wenn Tote in der Halle liegen. Zu schwer liegt der Anblick von Michael Wildner ihm im Magen und zu selten hat er bisher freiwillig zu Toten Kontakt gehabt. Die Schuld aus seinem alten Leben liegt schwer auf ihm und alle Toten wirken für Krochowski irgendwie vorwurfsvoll.

    Mit Janko geht Krochowski in die Werkstatt, um einen Sarg für die Kundin vorzubereiten, die drinnen von Barbara und Petra schön gemacht wird. Sie befestigen Polsterung und weißen Satin in einem schönen, glänzenden Sarg. Die Kinder der Toten haben ihn gestern ausgesucht und irgendwie schien ihnen dieser letzte fürsorgliche Akt ein wenig Erleichterung zu verschaffen.

    Als Krochowski in seiner Pause mit einem dampfenden Kaffee im Hof sitzt, gesellt sich Petra zu ihm, um ein „Schmäukchen“ zu machen, wie sie lächelnd erklärt. „Bist noch schüchtern, was Klaus?“, fragt Petra und schaut Krochowski mitfühlend an. „Musst keine Angst haben, wir sind ganz lieb mit den Toten“, sagt sie und pustet eine Rauchwolke in die Frühlingsluft. „Hast Du nicht manchmal Angst?“ fragt Krochowski zweifelnd. Petra schaut in den Himmel und denkt nach. Dann sagt sie: „Nein. Als ich ein Kind war, habe ich mal einen toten Schmetterling gefunden. Er war ganz leicht und als ich seine Flügel angefasst hab, ist der schöne Glitzer an meinen Fingern kleben geblieben. Ich hab ihn beerdigt und Gänseblümchen und schöne Steine auf sein Grab gelegt.“ Im Grunde, sagt Petra, seien die Menschen nach ihrem Tod auch so leicht und verletzlich wie Schmetterlinge. „Wir betten sie vorsichtig, wir pflegen sie, damit sie würdevoll bestattet werden können.“ Schmetterlinge? Krochowski muss an Michael Wildner denken und kann sich kaum vorstellen, dass er leicht wie ein Schmetterling geworden sein soll. Petra sieht sein zweifelndes Gesicht und lächelt. „Naja. Ist ein Bild mit den Schmetterlingen, weißt Du?“

  • Dreißig

    Januar 17th, 2025

    Ganz still ist es im Haus. Nadeshda atmet tief den Geruch nach altem Holz, nach Schimmel und kaltem Gemüseeintopf. Sie ist allein. Gerade sind alle Onkel und Tanten aufgebrochen. Sie fahren zurück in ihre Leben und lassen Nadeshda auf dem Hof zurück, der nun keinen Nutzen mehr hat und der verkauft werden soll. Nur Freya ist noch bei ihr. Die Hündin sitzt neben ihrer jungen Herrin und schaut unternehmungslustig.

    Den Nachmittag nutzt Nadeshda für eine ausgiebige Runde durch die Felder, die den Hof umgeben. Jetzt, im Mai, ist alles in Hellgrün und Hellblau getaucht. Der Himmel jauchzt, die Natur ist endlich aus ihrem Schlaf erwacht. Freya schnürt durch das üppige Gras der Wiesen, sie schnüffelt hier und pinkelt dort. So glücklich ist die Hündin und so schwer ist Nadeshda das Herz. Sie weiß nicht, was nun werden soll mit ihr, sie hatte doch nur eine Aufgabe.

    Mit den bloßen Händen pflückt Nadeshda Brennnesseln für einen Salat. Geschickt greift sie die stacheligen Stiele von unten, so dass sie nicht gestochen wird. Sie pflückt und kommt dabei ins Schwitzen. Der Vogellärm ist ohrenbetäubend, es ist wie ein Bad in Farben und Tönen, an diesem Maitag durch die Wiesen zu laufen.

    Nadeshda hebt den Kopf, um nach der Hündin zu schauen. Die steht am anderen Ende der Wiese und hat eine Pfote in die Luft gehoben. Das Tier reckt schnuppernd die Nase in die Luft. „Freya, hier!“, ruft Nadeshda streng und fängt an zu laufen. Eigentlich darf Freya gar nicht frei durch die Wiesen laufen, denn es ist Brut- und Setzzeit. Wenn die Vögel ihre Nester bauen und die Rehe und Hasen ihre Jungen im hohen Gras verstecken, muss ein Hund an die Leine. Sollte ein Jäger Freya erwischen, bekäme Nadeshda Ärger. Und so fängt sie an zu rennen, doch als sie fast bei der Hündin ist, setzt diese zum Spurt an. Am Waldrand springen ein paar Rehe übers Feld und Freya setzt ihnen in langen Sprüngen nach. Ihr rotbraunes Fell weht elegant, die Ohren flattern im schnellen Lauf. „Freya!“ schreit Nadeshda. „Freyyaaa!“, doch die Hündin ist in einer anderen Welt, sie ist auf Jagd.

    Spät am Abend kommt Nadeshda mit dem Fahrrad auf den Hof gerollt. Sie hat Freya überall gesucht. In den Wiesen und am Wald, in den Nachbardörfern. Hat Spaziergänger gefragt und sich den Rüffel eines Bauern angehört. Doch Freya ist fort.

  • Neunundzwanzig

    Dezember 27th, 2024

    Krochowski sitzt neben Uschi auf der Treppe vor seiner Küchentür. Die Amseln werfen sich von den Dachfirsten ihre Melodien zu. Es ist so warm, dass die Menschen anfangen, in den Gärten zu werkeln und Uschi hat es nicht in ihrem Häuschen gehalten. Krochowskis Anzugjacke hängt über dem Treppengeländer, seine schwarzen Schuhe sind staubig. „Wie war Deine zweite Beerdigung?“, fragt Uschi und beide wissen, dass das eine schwere Frage ist, weil sie ohne es zu verbergen an die erste, die Beerdigung von Michael Wildner anspielt. Krochowski spielt das Spiel mit und sagt: „Es war eine ganz normale Beerdigung.“ Dann überlegt er kurz und sagt: „Da war ein Mädchen. Es kam mitten im Trauergottesdienst raus, um mit uns zu rauchen.“ Er denkt weiter nach und sagt dann: „Das war, als würde man Asche auf ein weißes Tischtuch streuen.“ Uschi schaut auf den Garten und nickt. „Du weißt vielleicht nicht, dass Trauernde Menschen seltsame Dinge tun.“

    Doch, Krochowski weiß es. Sie tun Dinge, die sie sich selbst nicht erklären können.

    Er steht auf und geht zu seinem alten Rover, unter dessen Scheibenwischer noch immer Mullers geheimnisvoller Brief steckt. „Was war das eigentlich neulich für ein Vogel“, fragt Uschi, die den seltsamen Tanz von Muller um die Autos von ihrem Küchenfenster aus verfolgt hat. „Ein Irrer“, murmelt Krochowski, während er den ausgefahrenen Zeigefinger unter den Klebefalz des Briefumschlages schiebt. Umständlich nestelt er das Papier aus dem Kuvert und dann liest er: „Werter Herr, ich biete Ihnen für den Aufkauf Ihres gesamten Fuhrparkes die Summe von 20.000 Euro. Bitte rufen Sie mich an.“ Als Krochowski den Briefumschlag schüttelt, fällt ein Kärtchen heraus. Hermann Muller, Handelswaren aller Art, Telefonnummer. Krochowski schaut Uschi an und Uschi schaut zurück. Er hebt das Papier vor seine Augen und dann fängt er an, zu lachen. Er lacht laut und krächzend in den Frühlingsabend, so dass die Amseln verstummen.

  • Achtundzwanzig

    Dezember 20th, 2024

    Hier hat sich der Winter versteckt, denkt Nadeshda, als sie neben Tante Sonja an der Schwelle der Friedhofskapelle steht. Ein kalter Hauch weht ihr entgegen, ein Geruch nach welkem Laub und nach Staub, durch den kleine Füße gelaufen sind.

    Vor der Kappelle ist ein Tischchen mit einem Strauß Narzissen und dem aufgeschlagenen Kondolenzbuch aufgebaut. Ein Mitarbeiter steht daneben und versteckt hastig seine Zigarette, als Tante Sonja streng schaut.

    Vorn in dem kühlen Raum steht schon der Sarg vom Großvater und ein Bild von ihm, auf dem er ernst auf die Welt schaut. Einige Männer vom Beerdigungsinstitut scheinen mit dem Mikrofon beschäftigt zu sein und am Boden kniet ein Mitarbeiter von Herrn Steinhauer, der nach und nach alle Kerzen anknipst. Als er sich aufrichtet, sieht Nadeshda, wie schlaksig er ist. Seine grauen Haare stehen etwas pietätlos vom Kopf ab. Seine Erscheinung wirkt tröstlich auf Nadeshda, die sich klein fühlt und verloren. Sie hat sich einen Pullover von Onkel Veith geliehen und trägt eine Bluse und ihre gute schwarze Hose. Der Großvater würde über ihr Schuhwerk schimpfen, aber das ist nicht schlimm.

    Als der Kerzenmann sich umdreht, treffen sich ihre Blicke und Nadeshda muss sich schnell abwenden, weil sie plötzlich das Gefühl hat, schon wieder in Tränen ausbrechen zu müssen. Dabei hatte sie gedacht, sie sei ganz leergeweint.

    Tante Sonja zieht sie nach vorn, auf die erste Bank. Voll wird es nicht werden, der Großvater hatte keine Freunde. Aber ein paar Leute aus dem Dorf sind gekommen, sie schütteln Tante Sonja die Hand und legen den Arm tröstend um Nadeshda. Die Onkel und Tanten haben sich ganz vorn ausgebreitet und Onkel Veith redet mit der Pastorin, bevor der schlaksige Kerzenmann zu einem CD-Player geht und auf einen Knopf drückt. Ein Choral scheppert in der kalten Kapellenluft und der Kerzenmann geht gemessenen Schrittes durch den Mittelgang nach draußen und schließt leise die schwere Holztür hinter sich.

    Nadeshda versteht nichts von dem, was die Pastorin sagt. Sie sitzt da und friert und möchte zum Großvater. Um sie herum und in ihr drin sind Kälte und Einsamkeit, die sie so sehr fühlt, dass es ihr körperlich weh tut. Ihr war nicht klar, dass Trauer Schmerzen macht und nun weiß sie es. Der Duft der Frühblüher steigt ihr in die Nase. Fresien duften süß und stark und Nadeshda muss plötzlich aufstehen und aus der Kapelle laufen.

    Draußen stehen die Männer beisammen. Sie reden leise und rauchen. Der Kerzenmann schaut fragend, als Nadeshda aus der Kapelle kommt und sie kann nicht anders, als zu einem kleinen, rundlichen Mann mit Zigarette gehen und bittend die Hand ausstrecken. „Zigarette?“ fragt er zweifelnd. Nadeshda nickt. Er reicht sie ihr, hält inne und nimmt sie dann zurück. Janko zündet die Zigarette für Nadeshda mit einem tiefen Zug an und dann raucht sie den Mäusegeruch, die Kälte und den Blumenduft hinfort. Sie atmet ein und ihre Bronchien wehren sich wütend gegen die graue Luft. Aber Nadeshda beherrscht ihren Körper. Sie hustet einmal kurz, dann atmet sie lang ein. Und dann aus. „Danke“, sagt sie, und die Männer lächeln.

  • Siebenundzwanzig

    Dezember 19th, 2024

    Heute hat Krochowski es ohne Muller-Begegnung aus seinem Garten geschafft. Der emsige und gutgelaunte Autokäufer ist verschwunden. Den Briefumschlag unter dem Scheibenwischer hat Krochowski vergessen. Heute ist ein wichtiger Tag, denn heute soll er bei einer Beerdigung assistieren. der alte Mann, der kürzlich im Krankenhaus gestorben ist, soll einen kleinen Trauergottesdienst bekommen und dann wird er gebettet, wie der freundliche Janko mit weihevollem Gesichtsausdruck sagt. Die Verwandten waren schon da, haben einen Sarg ausgesucht und mit Herrn Steinhauer die Beerdigung geplant. Nun stehen in der Friedhofskapelle Frühlingsblumen und LED-Kerzen, die Spinnweben haben Janko und Krochowski gestern schon entfernt.

    Sie laden den Sarg mit dem alten Mann, der eigentlich eher ein Männlein ist, wie Krochowski findet, in den Leichenwagen und fahren langsam und würdevoll vom Hof. Im Fond ist es ganz still und Krochowski fühlt sich bekommen. Er hat sich im Personalraum einen schwarzen Anzug an aus knisterndem Polyester angezogen. Nun lenkt er sich damit ab, eine Vase mit Narzissen zwischen den Knien zu balancieren. Sie soll auf einem Tischchen neben dem Kondolenbuch stehen, wenn die ersten Trauergäste kommen.

    „Lernst gleich noch ein paar Kollegen kennen“, sagt Janko, während er routiniert den großen Wagen steuert, ohne Krochowski anzusehen. „Die Jungs sind in Ordnung, sie helfen beim Tragen“, erklärt Janko.

    Und so stehen am Eingang zur Kapelle drei Männer, auch sie haben steife schwarze Anzüge an und rauchen noch eine hastige Zigarette, bevor sie sich an der Kofferraumtür versammeln, um den Sarg in die Kapelle auf einen Podest zu tragen.

    Kalt ist es in der Kapelle, hier hat der Frühling noch keine Macht. Das helle Sonnenlicht bricht sich in den kleinen Fenstern unter der Decke. Seine Strahlen fallen schräg in das Halbdunkel und lassen Staubkörner glitzern und tanzen. Es riecht etwas muffig, nach Winter und nach Mäusedreck. Jedes Geräusch ist laut und irgendwie unpassend.

    Schnell geht Janko mit Krochowski die Liste durch. Kondolenztischchen vor der Kapelle, Blumen am Sarg, eine Fotografie des Verstorbenen, auf der er gestreng auf die Sitzbänke schaut. Das Mikrofon für die Pastorin ist bereit, die LED-Kerzen leuchten. Als Krochowski den letzten Kerzenschalter eingeschaltet hat, erhebt er sich ächzend von seinen Knien und wendet sich zur Tür. Dort stehen zwei Frauen. Eine hat dunkelbraune, faltige Haut und helle, klare Augen. Die andere sieht noch sehr jung aus. Sie hat ihr Haar zu einem strengen Zopf geflochten, trägt schwarze Hosen, Wanderstiefel und einen viel zu großen Pullover. Das Mädchen schaut Krochowski direkt an, mit fragendem, bittendem Blick, wie ein Kind, das am Bahnsteig vergessen wurde.

  • Sechsundzwanzig

    Oktober 22nd, 2024

    Beim Bestatter riecht es nicht nach Formalin, wie Tante Sonja befürchtet hatte. Es riecht nach dem Aftershave von Herrn Steinhauer, der viel zarter aussieht, als sein Name vermuten lässt. Der Bestatter sitzt hemdsärmelig und in Jeans vor den beiden Frauen, in kleinen blauweiß gemusterten Tassen dampft Kaffee. Nadeshda fühlt sich zitterig, Koffein ist ihrem Körper vollkommen unbekannt.

    „Natürlich können wir Ihren Herrn Großvater noch einmal aufbahren“, sagt Steinhauer gerade. Tante Sonja schüttelt abwehrend den Kopf. Beim Frühstück in der kleinen Küche hatte Nadeshda schüchtern den Vorschlag gemacht, den Großvater noch einmal im offenen Sarg in der Wohnstube zu betten. „Damit er noch mal nach Hause kann und damit wir uns alle verabschieden können.“ Die Onkel und Tanten hatten durcheinandergeredet, abwehrend mit den Händen gewedelt und die Köpfe geschüttelt. Dennoch hatte Nadeshda es soeben gewagt, die Frage nach einer Aufbahrung hier bei dem freundlichen, duftenden Herrn Steinhauer anzubringen. Aber Tante Sonja wehrte bestimmt ab: „Das wird nicht nötig sein. Bitte lassen Sie uns den Prozess nicht unnötig in die Länge ziehen“.

    Nadeshda schämt sich. Sie hat etwas dummes gefragt und der Rest des Gespräches über weitere Formalitäten rauscht an Nadeshda vorbei. In ihr ist es kalt und taub und sie möchte nach Hause. Erst, als die Tante Sonja und Herr Steinhauer aufstehen, um sich die günstigen Sargmodelle anzuschauen, erwacht Nadeshda aus ihrer Betäubung. Sie gehen über den Hof in einen kühlen, von Neonleuchtröhren erhellten Raum, in dem auf Ständern mehrere Särge stehen. „Wir haben zwei Modelle, die in Frage kommen“, erklärt Herr Steinhauer: „Ganz neu unser Sarg aus Zellulose. Leicht, baut sich schnell ab, sehr kostengünstig und für die gewünschte Erdbestattung sehr gut geeignet. Ansonsten“, Herr Steinhauer dreht sich mit ausladender Armbewegung um die eigene Achse: „Hier noch zwei Modelle aus Nadelholz.“ Nadeshda überlässt Tante Sonja das Verhandeln. Ihr ist egal, ob der Großvater einen teuren Sarg bekommt oder nicht. Es hätte ihn nicht gekümmert, da ist sie sich sicher. Er hätte auch nicht gewollt, dass alle Kinder zu seiner Beerdigung erscheinen und sich darüber ereifern, welche Lieder in der Kapelle gesungen werden und welche Blumen als Grabschmuck geeignet sind. Der Großvater war ein Eremit, die einzige Person, die er in seiner Nähe ertragen hatte, war Nadeshda gewesen. Und auch sie hatte Blessuren und Narben davongetragen, weil der alte Mann um sich biss wie ein böse gewordenes Pferd.

    Nadeshda tritt auf den Hof, sie braucht etwas frische Luft und möchte dem Neongeflacker entgehen. Unter dem Schleppdach, das die Hälfte des Innenhofes mit dem rissigen Betonboden überspannt, herrscht gedämpftes Licht, aus der Werkstatt nebenan hört sie das Surren und Kreischen einer Schleifmaschine. Durch die vom Holzstaub matten Sprossenfenster der Werkstatttür sieht Nadeshda einen grauen Haarschopf sich auf und ab bewegen. Dann schweigt die Schleifmaschine und Schritte nähern sich der Tür. Hastig geht Nadeshda zurück zu den Särgen, ins Neonlicht.

    Nach einer weiteren kurzen Besprechung an Herrn Steinhauers Schreibtisch und einer Unterschrift von Tante Sonja verlassen die Frauen das Bestattungsgeschäft. Im Auto sagt Tante Sonja beim Anschnallen: „Wir kriegen ihn schon gut unter die Erde, mach Dir mal keine Sorgen.“

    Ja. Jetzt ist der Großvater klein und leicht geworden und man kann ihn einfach hierhin und dorthin schieben. Er schimpft nicht mehr, er dirigiert nicht mehr. Seine Macht über Nadeshda ist gebrochen und doch umhüllen Furcht und Trauer sie und ein tiefes Sehnen dröhnt in ihrer Brust nach dem Mann, der ihr so lange gesagt hat, was sie tun, ja, was sie fühlen soll.

  • Fünfundzwanzig

    Juli 1st, 2024

    Es ist Dienstag. Einkaufs-Dienstag. Krochowski hat in der Küche seinen Kaffee hinuntergestürzt und schleicht eilig aus dem Haus, denn vorhin hat er im Garten schon wieder den dicken Mann gesehen, der seine Autos kaufen will, „alle!“. Herr Muller ist ihm unheimlich und er hat auch keine Veranlassung, seine schönen, alten Rover einem Verrückten in den Rachen zu werfen. Sie stehen gut, dort im Garten und er mag es, sich an die Fahrten zu erinnern, die er mit dem guten alten 45er unternommen hat. Ohnehin sind die Autos Schrott, was wird ein dicker Muller schon dafür zahlen? Im Garten knackt es, Krochowski fährt zusammen. Dann fasst er Einkaufsbeutel und Börse fester, eilt zu seinem Auto, steigt hastig ein, wirft die Tür mit Schwung zu und braust die Dorfstraße hinunter. Im Rückspiegel sieht er einen Mann im Staub stehen. „Tja, Muller“, feixt Krochowski, „musst früher aufstehen“.

    Im Lidl findet Krochowski alle Lebensmittel an ihrem gewohnten Ort. Bier, Leberkäse, Lasagne und etwas Räucherfisch aus dem Wochenangebot finden den Weg in den Einkaufswagen. Dazu noch die ersten Erdbeeren. Unvernünfig, Treibhausware. Aber der irre Autonarr hat Krochowski durcheinandergebracht und so weicht er von seinen Prinzipien ab und kauft die teuren Früchte.

    Durch die Einkäufe etwas beruhigt fährt er dann wieder aus der Stadt heraus, das Radio hat er laut gestellt und brummt die Melodien mit. Je näher er jedoch seinem Zuhause kommt, umso beklommener fühlt er sich. Ob der seltsame Herr Muller auf ihn gewartet hat? Krochowski findet es eine Zumutung, dass einfach so fremde Menschen in sein Dorf kommen und ihn belästigen. Wie hat er überhaupt die Wagen entdeckt?

    Tatsächlich lehnt Herr Muller an seinem protzigen Audi, als Krochowski auf sein Häuschen zurollt. Er starrt auf die Straße, steigt mit gesenktem Blick aus und öffnet den Kofferraum. Auf die Palette mit dem Bierdosen stapelt er seine Schätze. Das Toastbrot rutscht von dem Stapel, als Krochowski den Kofferraum schließen will. Fluchend bückt er sich und angelt ungeschickt nach der Packung. Dann klappt er die Hecktür seines Wagens zu und eilt zur Küchentür, um drinnen die Einkäufe auf den Küchentisch zu donnern. „Verflucht! Nervensäge!“ brummt er leise, und er ärgert sich, dass sein Herz so schnell pocht. Dann räumt er Bier und Lasagne in den Kühlschrank und wirft seinen Backofen an, denn Dienstag ist Leberkäs-Tag. Er öffnet sich eine Dose Bier und erstarrt, als er sich trinkend zur Gartentür umdreht. Da steht Herr Muller schon wieder im Garten. Er hat einen Briefumschlag in der Hand. Theatralisch hält er das Papier in die Höhe, geht mit ausgreifenden Schritten durch das ungemähte Gras und klemmt den Umschlag mit wichtiger Miene unter den Scheibenwischer des alten Rover P6. Dann schreitet Herr Muller davon, an der Gartentür hält er noch einmal inne, dreht sich um und winkt mit flatternder Hand Richtung Küchentür.

    „Spinner“, murrt Krochowski und nimmt noch einen tiefen Schluck Bier. „Hau ab.“

  • Vierundzwanzig

    Juni 26th, 2024

    Als die Sonne um halb sechs endlich aufgeht, hebt Nadeshda müde die Beine aus dem Bett und richtet sich auf. Sie hat wenig geschlafen und viel geweint. Der Großvater ist einfach „friedlich eingeschlafen“, wie es der Krankenpfleger etwas gehetzt am Telefon erklärt hatte. Friedlich. Niemals. Trotzig und wütend, das vielleicht. Nadeshda muss schon wieder schlucken, aber es kommen keine Tränen mehr. Die Onkel und Tanten wird sie bald informieren müssen. Sie haben sich im großen Haus in den Zimmern verteilt und schlafen noch. Sie ahnen nicht, dass das Problem Großvater sich gestern Abend von ganz allein gelöst hat. Nadeshda ist böse auf Alle. Sie hat Angst, denn sie weiß: Die Kinder des alten Mannes wollen mit diesem Leben nichts zu tun haben. Sie werden das Haus verkaufen und Nadeshda wird sehen müssen, wo sie bleibt.

    Sie zieht ihre Turnhose und ein verblichenes T-Shirt an und schlüpft in ihre Turnschuhe, ohne die Schnürbänder zu öffnen. Dann geht sie in die Turnhalle unter dem Scheunendach, um der Angst und Traurigkeit ein paar Seilsprünge und Klimmzüge entgegenzusetzen.

    Draußen ist es noch kühl, aber die Sonne scheint schon schräg über das Scheunendach. Nadeshda nimmt das schwere Springseil aus Stahldraht und fängt an, zu springen. Sie hüpft von einem Bein auf das andere, das Seil zischt sirrend durch die Luft. Ihr Atem fängt an, schneller zu gehen und ihr geflochtener Zopf wippt auf dem Rücken auf und ab. Sie kreuzt die Arme und hockt die Beine an: Hopp-hopp, zweimal springt sie durch das gekreuzte Seil, dann finden die Beine wieder den normalen Rhythmus. Ihre Gedanken hören auf, zu kreisen, je schneller ihr Atem geht, um so ruhiger wird ihr Herz. Sie beschließt, nur in kleinen Häppchen zu denken. Erst mit den Onkeln und Tanten reden. Dann eine Beerdigung organisieren. Der Großvater soll es fein haben. Mehr, denkt Nadeshda, kann sie gerade nicht tun. Wenn der Großvater unter der Erde ist, wird sich alles auflösen. Nadeshda hat das Gefühl, dass auch ihre Existenz sich auflösen wird. Sie schiebt den Gedanken daran zur Seite.

    Dann geht Nadeshda an die Sprossenwand, legt sich auf das schräge Brett und fängt an, Situps zu machen. Pfeifend atmet sie aus, während sie sich mit auf der Brust gekreuzten Armen immer wieder aufsetzt. Sie denkt weiter: Sie möchte keine Hilfe vom Staat beantragen. Sie möchte arbeiten. Der Gedanke ist noch vage und macht Angst, deswegen dimmt sie ihn ganz leise und geht hinüber zum Boxsack. Paff-paff, fliegen ihre Fäuste gegen das Leder. Schnell und präzise sind ihre Bewegungen, die Beine arbeiten tänzelnd mit. Der Großvater soll ein Grab voller Wildblumen haben. Und sie wird ihm Rilke vorlesen. Sie wird tapfer sein.

    Liegestütze, Planke, Medizinball. Mit jedem Atemzug verlässt die Panik ein Stückchen mehr Nadeshdas Körper. Sie wird ruhig, obwohl ihr Atem fliegt und der Schweiß ihren Rücken hinunterrinnt. Nach einer Stunde fühlt sie sich stark genug für alles, was nun kommen muss.

    Draußen im Hof trifft sie auf Tante Sonja, die die erste Zigarette des Tages raucht. Nadeshda setzt sich neben sie und schweigt. Nach zwei Zügen sagt die Tante: „Er ist tot, nicht?“ „Ja.“, sagt Nadeshda.

  • Dreiundzwanzig

    Juni 14th, 2024

    Am Morgen nach Michael Wildners Beerdigung erwacht Krochowski aus unruhigem Schlaf. Er hat von seinem Nachbarn geträumt, der im Nachthemd in einem von Krochowskis alten Autos gesessen und geschimpft hat, dass sein Hintern kalt wird. Krochowski setzt sich auf und reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann schiebt er seine Füße in die Pantoffeln und macht sich auf den Weg in die Küche, Kaffee kochen. Heute ist Samstag, er hat frei und kann es langsam angehen lassen.

    Die Kaffeemaschine brodelt, als Wildners Kater vor Krochowskis Tür maunzt. „Was schreist Du herum, komm rein, Kater“, sagt Krochowski und öffnet die Tür zum Garten. Wo er draußen ist, kann er gleich das Wochenblatt aus dem Briefkasten holen. Als er durch den Garten schlurft, fällt ihm im Augenwinkel eine Bewegung bei seinen alten Autos auf und er fährt zusammen: In einem der Wagen sitzt ein dicker Mann und schaut ihn an. Für einen Augenblick glaubt Krochowski, dass Michael Wildner aus seinem Grabe auferstanden ist, aber dann fängt er sich und erkennt, dass ein Fremder sich in sein Auto gesetzt hat. „Guten Tag“, sagt der Fremde und lächelt. Munter springt er aus dem Auto und läuft mit ausgestreckter Hand auf Krochowski zu. „Mein Name ist Muller. Wie Müller ohne Pünktchen.“ Er lacht und zeigt zurück auf den dunkelgrünen Rover. „Schönes Maschinchen. Steht sich kaputt, was?“ Für Krochowski sind das zu viele Worte vor dem ersten Kaffee, er möchte jetzt in sein Wochenblatt schauen und in Ruhe die Sonderangebote studieren. „Was wollen Sie?“, fragt er deswegen kurz angebunden und geht weiter in Richtung Briefkasten. Herr Muller trabt munter neben ihm her und ruft: „Ich will Ihnen Ihre Wagen abkaufen! Alle! Ich mache Ihnen ein Angebot, das sie nicht ausschlagen können!“ Dabei reibt Herr Muller sich die Hände, dann fuchtelt er vor Krochowskis Gesicht herum. „Was sagen Sie?“

    „Gar nichts“, murrt Krochowski. „Raus aus meinen Garten.“ Dann zieht er das Wochenblatt aus dem Briefkasten, dreht sich um und geht zurück Richtung Küchentür. Herr Muller hüpft neben Krochowski her. „Aber mein Herr! Ich zahle gut! Ich bin Sammler!“ Er wedelt mit seiner Hand in der Luft herum und schaut sehr dramatisch drein. Doch Krochowski ist nicht in Verkaufslaune. Er sagt nur: „Nein, gehen Sie.“, und wirft Herrn Muller die Tür vor der Nase zu.

    Der Kater hat es gerade noch hinein in die Küche geschafft und schaut etwas empört über die rüden Sitten, die Krochowski an den Tag legt. Der gießt sich einen Kaffee ein, setzt sich mit dem Rücken zum Küchenfenster an seinen Tisch und klappt das Wochenblatt auf. Bei Lidl gibt es diese Woche Fisch. Krochowski schlürft und nickt.

  • Zweiundzwanzig

    Juni 10th, 2024

    Im Wohnzimmer ist es warm und voll. An diesem kühlen Tag hat Nadeshda ein Feuer im Kamin angezündet, damit die Onkel und Tanten nicht frieren. Sechs Kinder hat der Großvater, mit vieren spricht er nicht mehr. Nun sind sie alle hier und wollen bereden, wie es weitergehen soll mit dem alten, kranken Mann.

    Gestern war Nadeshda mit ihrem Onkel Ingolf noch mal im Krankenhaus. Der Großvater lag wie ein Vogelküken in seinem Bett, beatmet, mit Medikamenten versorgt und ohne Bewusstsein. Der freundliche Arzt mit dem blanken Schildchen an der Kitteltasche konnte nichts sagen, außer: „Wir müssen abwarten.“ Dann hatte er mit den Schultern gezuckt und war gegangen.

    Nun sitzen sie alle im Wohnzimmer und reden und haben rote Wangen. Der Großvater müsse in ein Pflegeheim, sagen sie. Unverantwortlich sei das, ihn hier zu pflegen. Er hätte längst in eine Einrichtung eingeliefert werden müssen, dann wäre das mit der Treppe nicht passiert. Aber Nadeshda weiß: Der Großvater will hier sein. Und er ist glücklich in seinem Haus und gefallen ist er nur, weil er einen Schlaganfall hatte und seine rechte Körperhälfte ihm nicht mehr gehorchen wollte. Nadeshda möchte es schreien, aber sie kann nicht. Sie fühlt sich klein und schüchtern und sitzt schweigend auf der Kante des Sofas.

    „Was wird mit dem Haus, wenn der Alte ins Heim geht?“ fragt Onkel Veith, der Älteste. „Hier ist doch alles Rott!“ Er schaut sich abschätzig um, schaut auf die vielen Bücher des Großvaters, auf gelbliche Wandvertäfelung, auf die maroden Fensterrahmen. „Das ist doch noch gar nicht dran“, sagt Sonja. Die Tante ist aus Mallorca angereist, sie raucht eine Zigarette nach der anderen und ist eine wahre Hilfe für Nadeshda. Sie versteht, dass der Großvater nicht ins Heim will, sie möchte erst einmal abwarten, ob der Vater vielleicht wieder gesund wird. Freya, die Hündin, liegt zu ihren Füßen und schläft. Sie ist glücklich, dass die Herrin zu Besuch ist.

    Sie essen Salat und Brot und trinken Wasser dazu, die Teller balancieren sie auf ihren Knien. In der Küche ist nicht genug Platz für alle Geschwister. Nadeshda fasst sich ein Herz. Sie steht auf und sagt: „Ihr wisst, dass Opa hier alles für Euch ausgebaut hat.“ Sie blickt Sonja an: „Er wollte, dass Ihr herkommt und mit ihm hier lebt. Dieses Haus ist sehr wichtig für ihn.“ Nadeshda holt Luft und setzt nach: „Der Doktor heute im Krankenhaus hat gesagt, wir müssen abwarten. Er hat nicht gesagt, dass der Opa sterben wird.“ „Aber selbst, wenn er nicht stirbt: Der Alte wird nie mehr auf die Füße kommen! Er ist 91 Jahre alt! Was erwartet Ihr?“ Veith blickt um sich. Onkel Jasper nickt zustimmend und setzt hinzu: „Das ist doch Wahnsinn, so ein großes Haus für zwei Personen!“ „Aber der Garten!“ Nadeshda fängt an zu weinen. „Er liebt den Garten! Und er kennt die Leute aus dem Dorf! Er will hier nicht weg!“

    Sonja legt ihr die Hand aufs Knie und guckt begütigend. „Na, na. Du kannst ihn nicht die Treppen hoch und runter tragen, stimmts?“

    Die Geschwister reden hin und her, doch es wird klar: Der Großvater muss gehen. Wird er wieder aufwachen, werden sie ihn in ein Altersheim geben. Er wird zu schwach sein, um die Treppen hinauf in die Wohnung zu bewältigen und Nadeshda wird überfordert sein mit der Pflege eines alten, gelähmten Mannes.

    So schwer waren die letzten Monate, so schlimm hat der Großvater geschimpft. Nie konnte sie es ihm recht machen. Nadeshda weint. Was soll aus ihr werden, wenn der Großvater nicht mehr ist? Wo soll sie hingehen? Wer wird ihr sagen, was sie tun soll?

    Ingolf und Veith haben sich an den Computer gesetzt, schon gleich wollen sie nach Pflegeheimen in der Umgebung schauen, um dort anzurufen. Der Großvater soll ins Heim.

    Das Telefon klingelt. Niemand hört es. Es klingelt und klingelt und wird dann stumm. Später, als Nadeshda mit Freya zur Nachtrunde aufbrechen will, schrillt der Apparat erneut. Sie nimmt ab, hört zu, nickt.

    Der Großvater ist gestorben.

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