Der Tag beginnt mit einem lauten Poltern. Es folgt ein Schrei, dann herrscht Stille. Nadeshda, die in der Küche das Geschirr spülte, eilt in den Flur und schaut entsetzt auf die kleine, seltsam verbogen daliegende Gestalt des Großvaters am Fuß der Treppe. Sein Stock liegt quer auf dem halben Treppenabsatz, ein Schuh hat sich gelöst und ist dem Großvater auf den Rücken gefallen. Der Alte stöhnt und versucht, sich aufzurappeln, aber er klemmt so schief zwischen Wand und Geländer, dass er sich nicht aufrichten kann.

Nadeshda steht und schaut, ihr Herz rast. Dann schreit der Alte: „Jetzt komm schon, hilf mir auf!“ Da rennt das Mädchen los und springt die Stufen hinab. Sie greift unter die Arme des Großvaters und zerrt und hebt, bis er auf ihren Beinen zum Sitzen kommt. In dieser grotesken Haltung – der Großvater auf den Knien der Enkelin – harren sie kurz aus und schöpfen Atem. Der alte Mann hat sich die Stirn aufgeschlagen, Blut tropft auf Nadeshdas nackte Beine. Vorsichtig schiebt sie sich auf der Treppenstufe, auf der sie zum Sitzen kommen sind, zur Seite und lässt den Großvater neben sich gleiten. Die Hände des Alten schlottern, sein ganzer Körper ist ein zitterndes Häufchen. „Großvater.“ Nadeshda sieht ihn an. „Ich rufe jetzt den Krankenwagen. Kannst Du hier sitzen bleiben?“ Der Großvater weint und jammert und greift sich an die Stirn. Als er das Blut sieht, wird sein Klagen lauter, er zetert. Nadeshda steht vorsichtig auf und geht hinauf in den Flur, wo das alte blaue Telefon steht. Sie wählt die 112. „Notrufzentrale Lüchow, was kann ich für Sie tun?“ fragt eine Männerstimme. Nadeshda stellt sich gerade hin, sie drückt den Rücken durch und sagt mit zitternder, aber fester Stimme: „Mein Großvater ist gefallen! Die Treppe hinunter!“ Man hört den Mann am anderen Ende atmen. Dann fragt er: „Ist der Patient bei Bewusstsein?“ Nadeshda nickt. Als der Mann schweigt, fällt ihr ein, dass er sie nicht sehen kann und sie sagt: „Ja! Er sitzt auf der Treppe und jammert, er hat eine Wunde am Kopf!“ Der Mann scheint irgendetwas zu notieren, es raschelt und klickt. „Bleiben Sie bei ihrem Großvater, bewegen Sie ihn nicht. Sehen Sie zu, dass er wach bleibt!“ Dann fragt er noch nach der Adresse und Nadeshda gibt Auskunft und erklärt die Zufahrt zum Hof.  Zurück beim Großvater nimmt sie seine eiskalte Hand und er lässt es einfach geschehen. Er schaut vor sich hin und redet seltsame Dinge. „Inga, meine Liebe! Die Schachtel! Du darfst sie nicht vergessen!“ jammert er. „Fridjof, mein lieber Junge, ich habe Dich nicht vergessen, Du bist mein Junge, mein lieber Junge! Wir wollen doch wandern gehen, zum Stilfser Joch wollen wir doch!“ Dann weint er wieder auf, versucht aufzustehen. Nadeshda drückt ihn vorsichtig zurück auf die Stufe. „Shhhh! Großvater, bleib sitzen, gleich kommt ein Arzt und hilft Dir.“

Nadeshda beginnt zu schwitzen. Das Warten ist kaum auszuhalten. Die Minuten dehnen sich zu Stunden, und während der Alte redet und jammert, schaut sie auf das Blut auf ihren Beinen und lauscht mit klopfendem Herzen nach dem Krankenwagen. Dann hört sie Schritte in der Diele, jemand ruft. Das Mädchen springt auf, der Großvater schreit und rutscht neben ihr zur Seite. Dann sind die Männer in den weißen Hosen und mit den roten Jacken bei ihnen. Ihre Stimmen sind laut, sie fragen in ungerührter und etwas grober Art den Alten aus. Wie er heißt, ob er aufstehen kann, wo es weh tut. Nadeshda steht daneben und zittert. Die Sanitäter helfen dem Großvater auf, ein Bein knickt dabei weg, der Alte schreit. Nadeshda presst beide Hände vor den Mund, sie kann es kaum ertragen, den Großvater so schwach und hilflos zu sehen. Dann liegt der alte Mann endlich auf einer Trage. Der Notarzt ist mittlerweile eingetroffen und redet ruhig und bestimmt auf Nadeshda ein. Man wird ihren Großvater mitnehmen. Er muss beobachtet werden, vielleicht ist auch ein Bein gebrochen. Die Wunde an der Stirn ist schon mit einem Pflaster versorgt, das weiß und rein mit ein bisschen Blut auf dem seltsam grauen Gesicht des Großvaters klebt.

Dann tragen die Männer den stillen, alten Mann durch die Diele aus dem Haus. Sie schieben ihn mit einem lauten Ratschen in den Krankenwagen. Wie ein Raumschiff steht das Gefährt mit blinkenden Lichtern und piepsenden Geräten im Hof unter dem Schleppdach und Freya, die Hündin, läuft schnuppernd zwischen den Menschen umher und wedelt mit dem Schwanz. Die Türen schließen sich mit einem Klappen, der Notarzt steigt in sein Auto. Dann rollen sie vom Hof. Nadeshda steht vor der Tür und denkt: Ich hab nicht gefragt, wo sie ihn hinbringen. Dann fängt sie an zu weinen.


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