Im Krankenhausflur riecht es schon nach Mittagessen, als Nadeshda den Großvater endlich gefunden hat. Eine Schwester schiebt einen großen Wagen mit Essensportionen an Nadeshda vorbei und parkt ihn an der Wand. Ihre weißen Gummischuhe quietschen auf dem Linoleum. 

„Entschuldigung“, Nadeshda räuspert sich und setzt noch einmal an, diesmal lauter: „Entschuldigen Sie bitte, hier ist heute morgen ein alter Mann eingeliefert worden.“ Und leiser: „Mein Großvater.“ Die Schwester blickt über die Schulter, als sie ein Tablett vom Wagen hebt. „Heute morgen? Das muss der von der ITS sein.“ „ITS? Wo ist das?“ „Intensivstation“, sagt die Schwester und guckt ein bisschen mitfühlend. Und während sie die Tür zu einem Patientenzimmer aufstößt, ruft sie noch: „Eine Etage runter!“ 

Intensivstation. Nadeshdas Haut kribbelt und auf ihrer Oberlippe bildet sich kalter Schweiß. Warum denn das, der Großvater war doch noch ganz munter als sie ihn holten, sogar schimpfen konnte er noch. Und vielleicht sei ein Bein gebrochen, hatte der Doktor gesagt. Diese dumme Schwester, bestimmt hatte sie sich geirrt. Nadeshda wartet, bis die Frau wieder aus dem Zimmer kommt, um die nächsten Tabletts zu verteilen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie wieder. „Es tut mir leid, aber sie müssen sich irren, mein Großvater ist nur die Treppe heruntergefallen, er war nicht schwer verletzt.“ Die Schwester schnappt sich das nächste Tablett und geht zur Tür gegenüber. „Schauen Sie doch nach!“ sagt sie nur und ist verschwunden. 

Nadeshda steigt mit zitternden Beinen das untere Stockwerk, zieht die schwere Etagentür auf und steht in einem weiteren hell erleuchteten Flur mit Linoleumboden. „Intensivstation“ steht auf einem Wegweiser und so lenkt Nadeshda ihre unsicheren Schritte nach rechts. Dort wartet eine Tür auf sie, mit hellgelben Buchstaben und einem großen „STOPP!“ beklebt. Klingeln solle man, steht da und so drückt das Mädchen bange auf den Knopf, der neben der Tür angebracht ist. Sie wartet und hört zu, wie das Krankenhaus summt. Dann nähern sich eilige Schritte und ein Pfleger im blauen Kasack öffnet ihr die Tür. „Entschuldigen Sie“, sagt Nadeshda. „Mein Name ist Nadeshda Herrmann, und die Schwester sagte mir, dass mein Großvater hier ist, aber ich glaube nicht, weil er ist nur gestürzt, aber sie sagte, ich soll hier fragen…“ Nadeshda merkt, dass sie ins Plappern gerät vor Aufregung aber der Pfleger schaut sie geduldig an und wartet, bis sie fertig ist. „Ja, Frau Hermann, kommen Sie rein“, sagt er und dann noch: „Der Doktor war gerade da, Sie können gleich mit ihm reden.“ 

Es ist wahr. Ihr Großvater ist hier. Nadeshda fühlt, wie ihre Augen ganz heiß werden und der Hals eng. Dann tappt sie hinter dem Pfleger her, hinter ihr fällt die Glastür ins Schloss. Der Mann führt sie in ein Zimmer, das ganz vollgestellt mit piepsenden Maschinen ist. Laut ist es darin und heiß. In einem Bett, verkabelt und mit Kanülen in Arm und Hals, mit einem Schlauch, der schrecklich brutal in seinem geöffneten Mund verschwindet, liegt der Großvater. Sein Brustkorb hebt und senkt sich seltsam rhythmisch, er sieht sehr alt und sehr klein zugleich aus. Wie ein sehr altes Baby. Nadeshda weint. Sie sucht unter all dem Zeug das da mit dem Großvater im Bett ist seine Hand. Dann seht sie da und streichelt die alten Finger. „Großvater….“ 

Eine Stunde später sitzt Nadeshda wieder im Auto. Sie fährt durch den hellen Frühlingstag, das Auto summt munter die Straße entlang. Nadeshdas Hände umklammern das Lenkrad, seltsam taub fühlt sich das an. In ihren Ohren klingen die Worte des Arztes, der ihr mit der Geschäftsmäßigkeit eines Automobilmechanikers den Zustand des Großvaters erläutert hat. Einen Schlaganfall hatte er. Gestürzt sei er wohl, weil sein linkes Bein ihn nicht mehr trug, weil sein Gehirn ihn nicht mehr lenkte. Der Großvater ist krank, sehr krank, das hat sie verstanden. Ob er wieder aufwachen wird, konnte der Arzt ihr nicht sagen. 

Zu Hause lenkt Nadeshda ihren Wagen in den Unterstand, dann geht sie ins Haus, den Hund befreien. Freya umspringt ihre Herrin jappend und jaulend und läuft hinaus auf die Wiese hinterm Haus. 


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