Nadeshda singt. Aus dem Radio plärrt ein Schlager. „Marmor, Stein und Eisen bricht“ singt der Sänger, und Nadeshda singt mit. Die Sonne scheint durch die weit geöffneten Fenster der Wohnung und Nadeshda hantiert mit Lappen und Zeitungen. „Bei Sonnenschein lass das Fensterputzen sein!“ doziert der Großvater, der auf einem Stuhl sitzt und zur Musik mit dem Fuß wippt. Sonne macht Schlieren auf die Fensterscheiben, sagt der Großvater und nickt und hebt und senkt den Zeigefinger zu seinem Vortrag. Aber Nadeshda lacht und küsst ihm auf den schlohweißen Kopf und wischt und wienert. Alte Zeitungen knüllt sie zu großen Bällen und reibt damit fest, bis die Scheiben blitzen. „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür“, singt Marianne Rosenberg und Nadeshdas helle Stimme klingt bis hinunter auf die Straße.

Freya, die Hündin, hat sich majestätisch neben dem Großvater niedergelassen. Ihr Fell glänzt kupferfarben in der Frühlingssonne, ihre Locken breiten sich über dem Holzfußboden aus, den Kopf hat sie auf ihre Pfoten gebettet. Ab und zu hebt sie müde die Lider und schaut ergeben dem bunten Treiben zu.

Zum Mittagessen gibt es Gemüsesuppe, Brot und einen Rest Sauerkraut. Die gelöste Stimmung hält sich, bis der Großvater sich zu einem Mittagsschläfchen in sein Zimmer zurückzieht und Nadeshda bricht mit Freya zu einem langem Spaziergang auf.

Hinter dem Garten des Großvaters steht ein verlassener Hof. Das große Vierständerhaus sieht aus wie eine zahnlose Alte. Überall klaffen Löcher, das große grüne Scheunentor ist angenagt vom Zahn der Zeit, Tiere haben sich, um ins Haus zu gelangen, Mulden in den Sand unterm Tor gegraben. Rund um das Haus blüht die alte Frühlingspracht, die die Hände einer Bäuerin einmal hier gepflanzt haben. Akeleien strecken ihre zarten Blätter in den Frühlingswind, Lungenkraut und Stockrosen treiben schon aus. Wie schön muss der Hof einst gewesen sein, den seine großzügigen Nebengebäude zu einem Viereck einrahmen. In der Scheune haben im letzten Sommer die Füchse ihren Wurf großgezogen, Nadeshda sah die Füchslein auf der Wiese hinterm Hof in der Abendsonne herumtollen.

Seit Freya bei Nadeshda lebt, haben das Mädchen und der Hund sich einen Pfad über die Wiese hinter dem alten Hof getreten. Er verläuft diagonal vom einen Ende zum anderen, hin zum Wald mit den großen Erlen und zum Trafotürmchen, an dem schon längst keine Kabel mehr hängen. Hier beginnt der große Spaziergang, der weiterführt über Wiesen, an dem Weiher mit den Blesshühnern vorbei und auf dem fast zugewachsenen Wirtschaftsweg durch die Felder. Stundenlang können sie so laufen, vorbei an kleinen Dörfern, über Entwässerungsgräben und Wiesen hinweg. Freya setzt ihre Schritte elegant und leicht, Nadeshda läuft fröhlich durch die Frühlingsluft und hängt ihren Gedanken nach. Der Großvater ist freundlich heute. Beim Morgenspaziergang war er für ein Schwätzchen mit den Nachbarn stehengeblieben und hatte fröhlich und gelöst geplaudert. Seine Stimme klang warm, er erkundigte sich nach dem kranken Vater der Nachbarin und lobte den gepflegten Gemüsegarten. Nadeshda ist froh. Wenn der Großvater zufrieden ist, ist sie es auch.

Im Augenwinkel bemerkt das Mädchen, das vor sich hin ins Gras geblickt hatte, eine rasche Bewegung. Ein kupferfarbener Blitz jagt von hinten an ihr vorbei übers Feld. Nadeshda hebt erschrocken den Kopf und schaut. Rehe! Weit, weit hinten auf dem Feld laufen und springen sie davon und Freya, die schöne Hündin hetzt übers den Ackerboden, das die Dreckklumpen fliegen. „Freya! Freya hier!“ Nadeshda rennt und winkt und schreit, doch die Ohren der Hündin sind taub für ihre Herrin. Ihr Wollen und Sein ist jetzt die Jagd, kein Ruf kann sie stoppen. Bald schon sind die Rehe hinter der nächsten Kuppe verschwunden und bald schon ist Freya ihnen gefolgt. Nadeshda rennt, aber sie ist viel zu langsam für diese wilde Jagd.

Sie steht mit hängenden Armen auf dem Feld und weint. „Freya!“ Nadeshda ruft und läuft, aber der Hund ist verschwunden. Der Bauer kommt auf seinem Schlepper vorbei und hupt und winkt. „Runter von meinem Acker, Mädchen!“ schreit er und Nadeshda stapft durch die schwere Erde zurück auf den Weg. Dann rennt sie nach Hause und wirft sich auf ihr Fahrrad. Sie fährt die Wege ab, die der Hund kennt, sie ruft und lockt. Immer weiter entfernt sie sich vom Hof des Großvaters, aber Freya bleibt verschwunden. Nadeshda fährt mit dem Auto die Kreisstraße entlang, die Augen auf den Böschung geheftet, im Herzen die Angst, ein kupferfarbenes Lockenhäufchen am Rande liegen zu sehen. Doch Freya ist verschwunden.

Den Großvater hat die gute Laune verlassen, als Nadeshda in der kühlen Frühlingsdämmerung nach Hause kommt. Mutlos steigt sie aus dem Auto, und resigniert hört sie sich die strengen Mahnungen des Alten an. Voller Kletten ist ihr Pullover, weil sie auf der Suche ins Unterholz kroch. Müde ist sie und so traurig. Freya…

Nach dem Abendessen mit dem mürrischen Großvater steigt sie noch einmal die Treppe in die Diele hinunter und geht auf den Hof. Und dort liegt das treulose Tier. Voller Kletten und Grassamen, zerzaust, schmutzig und würdevoll. Nadeshda schimpft und zaust und herzt den Hund und holt die große Bürste, um die Königin der Jagd von ihrem Dreck zu befreien.


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