Nadeshda hängt an der Reckstange und blickt gegen die Giebelwand der Scheune. Auf ihrer Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Ihre Lippen sind entschlossen zusammengekniffen, ihr Gesicht ist Wille und Konzentration. „Schlampe“. Ihre Armmuskeln spannen sich, sie zieht sich hoch, hängt unter der Stange, lässt konzentriert und sehr langsam wieder los. „Undankbar“. Sie zieht sich hoch, die Beine hängen angewinkelt unter ihr. „Brut“. Hepp, hepp, hepp. Drei rasche Klimmzüge hintereinander. Dann schwingt sie sich an langen Armen nach vorn, springt und landet mit federnden Knien auf der Turnmatte. Um ihre Stirn haben sich Löckchen gelöst, der strenge Pferdeschwanz hängt zum Zopf geflochten über den Rücken. Sie geht zur Langhandel, hockt sich hin, greift weit auseinander. Ihr Blick klebt an der Bretterwand, sie atmet ein. Dann ein Ruck und sie steht auf. Die Muskeln ihres Rückens, ihres Gesäßes spielen, der Schweiß läuft in Bächen über ihren schmalen Rücken. Die Hantel ist oben. Sie spielt mit ihr, lässt sie sinken und steigen. Sie hat Kraft. Sie ist unbesiegbar. Sie ist unverletzlich. 

Unten quietscht die Holztür, die erste durchgetretene Diele knarrt, dann ist es still. Nadeshda hält den Atem an. „Kind!“ schallt es von unten mit der blechernen Stimme des Alten. „Hast Du fertig geturnt? Beeile Dich, ich brauche Dich im Garten!“ Die Falte auf Nadeshdas Stirn geht, ihr Gesicht wird weich. „Ja Großvater, ich komme.“ Die Hantel knallt auf den Bretterboden. Die junge Frau  wischt sich den Schweiß mit einem alten Frotteehandtuch mit Blumenmuster aus der Stirn und steigt mit Rehbeinen die schmale Holzstiege hinab. Unten steht der Alte, er hat den Stock dabei. Ungeduldig spielt die Stützhand mit dem Griff, die Finger öffnen und schließen sich. „Darf ich noch duschen?“ fragt Nadeshda und sieht zu Boden, vorbei an den nassen Shorts. „Bitte tu das“ schnarrt der Alte und hinkt in den Garten. „Aber beeile Dich, ich warte.“ Seine Schritte sind klock-schlurf, klock-schlurf, als er über den Hofplatz zum Garten geht. 

Unter der Dusche lässt Nadeshda sich kochend heißes Wasser über den Rücken laufen. Ihr Herz fängt in der Hitze an zu rasen, sie schrubbt sich mit dem Plastiknetz, in dem der Großvater Seifenreste sammelt, bis ihre Haut knallrot ist. Das Rauschen des Wassers, die Hitze, der Dampf, sie beruhigt sich, sie atmet. Dann steigt sie rasch aus der Dusche. Sie trocknet sich ab, steigt in Slip, Jeans und T-Shirt und eilt die Holztreppe hinunter, durch die Diele und in den Garten. Dort sitzt der Alte auf einem Plastikstuhl und tappt mit dem Fuß. Tapp-tapp, tapp-tapp. „Da bist Du. Nun.“ Er krallt sich den Stock und erhebt sich, ohne ein Geräusch zu machen. Seine krummen Beine zittern, sein Arm bebt, doch keine Klage verlässt seinen Mund. „Hole Grabegabel und Rechen, Kind“, sagt er und weist zur Gartenscheune. Nadeshda nickt und läuft. „Nicht die, die kleine, mit dem roten Griff“, sagt der Alte. Nadeshda nickt und läuft zurück. Im Gemüsegarten des Großvaters hat alles seine Ordnung. Dicke Betonplatten liegen auf den Wegen, die Beete sind säuberlich abgeteilt. Jetzt, im Frühling, wuchern Vogelmiere und Löwenzahn auf den Flächen. Ein paar Salatpflänzchen haben sich im Sommer ausgesät und sind schon gekeimt, sie wachsen in Fugen und Ritzen und sehen so hoffnungsvoll aus, dass Nadeshda sich wünscht, der Großvater möge sie nicht zwingen, sie auszureißen. 

Der Großvater ist vorausgegangen zu einem langen Beet in der Mitte des Gartens. Hier steht er und stupst mit dem Stock den Löwenzahn an. „Das muss alles weg! Nicht untergraben! Rausreißen!“, ruft er und fuchtelt mit der freien Hand in der Luft. Nadeshda nickt und reißt an einem Löwenzahn. Mit einem „knack“ gibt die dicke Wurzel nach und Nadeshda hält die Pflanze nur halb in der Hand. „Aber Kind!“ ruft der Großvater, „doch nicht so!“ Er reißt ihr die Grabegabel aus der Hand und taumelt. Die stützende Hand der Enkelin wehrt er unwirsch ab. Dann treibt er die Gabel in die Erde und reißt am Griff. Fette Erdkrumen lösen sich und ein goldgelber, saftiger Löwenzahn kippt in die Waagerechte. Er nimmt die Pflanze mit seinen weißen, knorrigen Altmännerhänden und schüttelt sie, dass die Klumpen ins Beet purzeln. „So.“, sagt er zufrieden und wirft das Ärgernis auf den Weg. „Weitermachen“, blafft er und hinkt zurück auf seinen Stuhl am Eingang des Gemüsegartens. 

Die Sonne scheint vom Frühlingshimmel und Nadeshda arbeitet. Sie setzt den Fuß auf die Grabegabel, tritt fest zu und hebt Löwenzahn und Quecke und Vogelmiere aus der dicken, schwarzen Gartenerde. Regenwürmer und Maikäferlarven winden sich in ihren Händen. 

Dann sinkt die Sonne hinter die hohe Gartenhecke. Nadeshda hat das Beet befreit, die Krume liegt nackt und bloß unter der Abendsonne, die herbeigeholte Schubkarre ist voll von wilden Kräutern. Der Großvater ist zufrieden. Seine Hände wühlen in der Erde, mit den Knien liegt er auf der Beetumrandung und nickt. „Gut, Kind.“ Nadeshda fährt das Unkraut auf den Kompost. Die Schubkarre ist schwer, aber das kümmert sie nicht. Sie hat Kraft. Sie ist stark. Sie ist unverletztlich. 


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