Krochowski isst. Er hat sich aus kalten Nudeln vom Vortag und den letzten Eiern ein schnelles Essen bereitet und mit der Ketchupflasche lustige Streifen darauf gemalt. Er hat frische Unterhosen an, das Hosenpaar mit dem nassen Bein liegt als graues, kümmerliches Häufchen vor der Waschmaschine und seine dünnen, weißen Beine ragen nackt und in Filzpantoffeln unter den Tisch.

Während er langsam kaut, wühlen die Gedanken in seinem Kopf. Das Mädchen. Die Straße. Der Sturz. Die Erinnerungsfetzen tauchen wie spitze Zähne aus seinem Unterbewusstsein auf. Krochowski stöhnt. Es gibt kein Entrinnen. Er schließt die Augen und sieht sich in der Kanzel seiner 189er Lok. Hinter ihm tonnenschwer das Erz aus Rotterdam. Es ist ein schöner Frühsommertag. Insekten und Staub kleben draußen an der Scheibe seiner knallroten Gefährtin, die tapfer und ohne Murren den „Langen Heinrich“, den 400 Meter langen, 4.000 Tonnen schweren Güterzug, beladen mit Erz für die Eisenhütten im Saarland, durch die norddeutsche Tiefebene zieht. Durch einen Hohlweg fährt er, frisches, grünes Gras wächst an den Hängen bis herunter zu dem Schotter, auf dem die Schienen sich biegen und kreischen, wenn der Zug sie passiert. Ganz vorn, kurz vor der Brücke sieht Krochowski eine Gestalt die Böschung hinab stolpern. Sein Herz verkrampft sich. Was macht die da? Verrückt geworden? In seinem Kopf wird es kalt, er taumelt, dann reißt er den Arm hoch und leitet die Notbremsung ein. Die Lok ächzt, die Räder kreischen, doch für Krochowski geschieht das alles in Zeitlupe. Ein Mädchen ist es, eben steht sie noch, jetzt legt sie sich hin. Krochowski schreit. Er schreit so laut, dass seine eigenen Ohren klingeln. Er schreit so sehr, dass er noch Tage später keine Stimme haben wird. Das Mädchen kommt näher und näher, quälend langsam. Er sieht ihr kleines Gesicht als hellen Fleck, dann ist sie verschwunden.

Bumm. Mit einem dumpfen Schlag landet Krochowskis Faust auf dem Tisch. Schluss. Es ist vorbei. Doch sein Herz rast, vor seinen Augen flimmert die Luft. So oft schon hat er das Gesicht des Mädchens aus dem Blickfeld verschwinden sehen, diesen kleinen hellen Fleck auf dem Schienenstrang. So oft schon hat er das Kreischen der Bremsen gehört, das Rucken und Drücken der Tonnage hinter sich gefühlt. Vorbei. Fünf Jahre schon. Doch das Elend kommt immer wieder zurück. Es schlummert in den Eingeweiden und bricht hervor, wenn es seine Chance wittert. Nie wird er vergessen, warum er kein Lokführer mehr sein kann, nie. Der Geruch von Diesel macht ihn krank. Das Geräusch eines Lokmotors lässt ihn schwitzen. Vergiftet ist alles, was aus Eisen ist und stampft. Das Mädchen ist tot, sie liegt unter der Erde und hat ihre trauernden Eltern alleingelassen. Doch Krochowski lebt weiter und isst Nudeln mit Ei und Ketchup und pisst sich ein, wenn er bremsen muss. Eine Scheiße ist dieses Leben geworden, eine verdammte Scheiße.

Heute wird er nicht mehr einkaufen fahren, er muss sich beruhigen. Er wird in den Grünen Winkel gehen und dort zwei – drei Biere trinken, damit er nachher schlafen kann. Seine Dosen sind schon seit gestern leer. Im Grünen Winkel werden sie sich wundern, denn dienstags ist Krochowski nie dort. Sie werden ihn fragen was los ist und er wird nur finster auf den Tresen starren, den Kopf in die Fäuste gestützt und brummen. Sollen sie ihn lassen, er wird nicht reden, nicht heute.

Krochowski nimmt den Teller mit den Ei-Nudeln und schlurft zum Mülleimer. Keinen Hunger mehr. Sollen die Maden den Scheiß doch fressen. Draußen klappert der Briefkasten. Dann hört er den gelben Kleinbus mit der munteren, drallen Postfrau davon sausen. Post? Er greift eine Hose, die über dem Küchenstuhl hängt, streift sie über, dann nimmt den Briefkastenschlüssel vom Haken neben der Tür und schlurft barfuß zum Zaun. Quietschend öffnet sich das kleine Blechtürchen. Ach. Krochowski wendet das Umweltpapier in den Händen. Vom Jobcenter. Ach. Er schlurft zurück in die Küche und wirft den Umschlag auf den Tisch, neben einen dicken Ketchupfleck.


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