Ganz still ist es im Haus. Nadeshda atmet tief den Geruch nach altem Holz, nach Schimmel und kaltem Gemüseeintopf. Sie ist allein. Gerade sind alle Onkel und Tanten aufgebrochen. Sie fahren zurück in ihre Leben und lassen Nadeshda auf dem Hof zurück, der nun keinen Nutzen mehr hat und der verkauft werden soll. Nur Freya ist noch bei ihr. Die Hündin sitzt neben ihrer jungen Herrin und schaut unternehmungslustig.
Den Nachmittag nutzt Nadeshda für eine ausgiebige Runde durch die Felder, die den Hof umgeben. Jetzt, im Mai, ist alles in Hellgrün und Hellblau getaucht. Der Himmel jauchzt, die Natur ist endlich aus ihrem Schlaf erwacht. Freya schnürt durch das üppige Gras der Wiesen, sie schnüffelt hier und pinkelt dort. So glücklich ist die Hündin und so schwer ist Nadeshda das Herz. Sie weiß nicht, was nun werden soll mit ihr, sie hatte doch nur eine Aufgabe.
Mit den bloßen Händen pflückt Nadeshda Brennnesseln für einen Salat. Geschickt greift sie die stacheligen Stiele von unten, so dass sie nicht gestochen wird. Sie pflückt und kommt dabei ins Schwitzen. Der Vogellärm ist ohrenbetäubend, es ist wie ein Bad in Farben und Tönen, an diesem Maitag durch die Wiesen zu laufen.
Nadeshda hebt den Kopf, um nach der Hündin zu schauen. Die steht am anderen Ende der Wiese und hat eine Pfote in die Luft gehoben. Das Tier reckt schnuppernd die Nase in die Luft. „Freya, hier!“, ruft Nadeshda streng und fängt an zu laufen. Eigentlich darf Freya gar nicht frei durch die Wiesen laufen, denn es ist Brut- und Setzzeit. Wenn die Vögel ihre Nester bauen und die Rehe und Hasen ihre Jungen im hohen Gras verstecken, muss ein Hund an die Leine. Sollte ein Jäger Freya erwischen, bekäme Nadeshda Ärger. Und so fängt sie an zu rennen, doch als sie fast bei der Hündin ist, setzt diese zum Spurt an. Am Waldrand springen ein paar Rehe übers Feld und Freya setzt ihnen in langen Sprüngen nach. Ihr rotbraunes Fell weht elegant, die Ohren flattern im schnellen Lauf. „Freya!“ schreit Nadeshda. „Freyyaaa!“, doch die Hündin ist in einer anderen Welt, sie ist auf Jagd.
Spät am Abend kommt Nadeshda mit dem Fahrrad auf den Hof gerollt. Sie hat Freya überall gesucht. In den Wiesen und am Wald, in den Nachbardörfern. Hat Spaziergänger gefragt und sich den Rüffel eines Bauern angehört. Doch Freya ist fort.