Achtzehn
Unter dem Tennendach ist es noch kühl, denn es ist früh am Morgen. Die Sonne scheint schräg durch die durchsichtigen Dachplatten. Die Katze sitzt da und schaut Nadeshda zu. Die hat sich ein Brett in die Sprossenwand gehängt und macht Situps. Sie liegt kopfunter auf der schrägen Ebene und keucht. Eins, zwei, drei. Zehn Wiederholungen, dann hält sie kurz inne, dann wieder zehn. Ihr Shirt ist an Bauch und Rücken dunkel vom Schweiß.
Nadeshdas Muskeln brennen und ihr Nacken tut weh, doch sie macht weiter. Sie atmet keuchend aus. Die Hände hat sie hinter dem Kopf verschränkt die Ellenbogen schiebt sie abwechselnd nach vorn. An ihren Fußrücken haben sich rote Striemen gebildet, es schmerzt. Das tut gut, das macht, dass der Tumult in ihrer Brust ein wenig leiser wird.
Gestern war Nadeshda im Krankenhaus. Der Großvater schlief, als sie kam. So matt und durchscheinend sah er aus, wie er da in seinem ordentlichen Schlafanzug im Bett lag. Ein wenig Speichel war an seiner Wange eingetrocknet und Nadeshda hatte versucht, den Fleck zu entfernen. Unwirsch hatte der Großvater da mit der Hand nach dem Tuch geschlagen, er war aufgewacht und hatte sie aus einen kühlen blauen Augen angesehen. „Du.“ Mehr hatte er nicht gesagt.
Nadeshda hatte in ihrem Beutel nach dem Gedichtband gekramt und ihn dem Großvater hingehalten. „Schau, hab ich Dir mitgebracht. Soll ich vorlesen?“ Der Großvater hatte nicht geantwortet. Ganz grade hatte er sich hingelegt und an die Decke geschaut. Da hatte Nadeshda in dem Bändchen geblättert und auf gut Glück ein Gedicht von Rilke ausgewählt. „Härte schwand“, hatte sie gelesen, „Auf einmal legt sich Schonung auf der Wiesen aufgedecktes Grau.“ Der Großvater hatte schweigend dagelegen, nur seine Augen waren irgendwie weicher geworden. Nadeshda hatte mutig weitergemacht: „Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau.“ Da war eine Träne aus Großvaters Auge die Wange heruntergerollt und er hatte mit der linken Hand nach Nadeshda und dem Buch getastet. Er hatte ihren Arm kurz gehalten, ganz fest hatte seine alte Männerhand sich um ihren dünnen Unterarm geschlossen. „Geh“, hatte er dann mit rauer Stimme gemurmelt. „Geh, nimm das Buch mit.“ Und als sie hatte protestieren wollen und als sie angefangen hatte, vom Garten zu reden und von den Karotten und von Peet, schnell und sich verhaspelnd, da hatte er sie überraschend laut und entschieden angefahren. Sie sollte gehen, er brauche sie nicht. Und dann hatte er ihr das Buch aus der Hand genommen und zu Boden geworfen.
Der Arzt in seinem Glaskasten hatte Nadeshda mitfühlend angeschaut und ihr erklärt, dass der Großvater nun „stabil“ sei und man hier im Krankenhaus nichts mehr für ihn tun könne. Die Familie müsse entscheiden, was nun zu tun sei und er habe auch schon mit einer Tochter gesprochen, die eine Verlegung in ein Pflegeheim befürworte. Nadeshda war erschrocken aufgefahren. Niemand hatte ihr gesagt, dass man sogar im Krankenhaus anrufen würde.
Sie hatte etwas von einer Familienkonferenz gemurmelt, und um einen Tag Aufschub gebeten, sie wolle alles klären und sich morgen melden.
Als sie am frühen Abend nach Hause gekommen war, hatte der Anrufbeantworter im Flur geblinkt. Die muntere Stimme einer Frau war darauf zu hören, sie hatte vom Pflegeheim in Clenze angerufen. Man solle sich melden, es sei kurzfristig ein Bett in einem Zwei-Bett-Zimmer frei geworden. Der Großvater im Heim. Mit einem fremden alten Mann im Zimmer, der vielleicht herumbrabbelte oder ins Bett machte. Nadeshda hatte die Nachricht einfach gelöscht und war mit dem Hund losgelaufen, in der Abenddämmerung durch die Wiesen gestreift und hatte geweint. Leise und traurig und immer wieder.
Nun trainierte sie sich den Schmerz aus dem Leib. Wenn sie in der Tenne war und Sport machte, konnte sie nicht ans Telefon gehen. Sicher würde Tante Sonja oder Onkel Veit bald anrufen und auf sie einreden. Doch sie wollte nichts hören. Gar nichts. Sie wollte, dass der Großvater zurück kam in sein Haus mit den schiefen Wänden. Sie wollte seine Hände in der Erde wühlen sehen, die weißen, knotigen Finger zwischen den schwarzen Krumen. Sie wollte mit ihm Radieschenbrote essen und Apfelsaft trinken und sich von ihm ausschimpfen lassen. Der Großvater sollte zurückkommen.