Sechsundzwanzig

Beim Bestatter riecht es nicht nach Formalin, wie Tante Sonja befürchtet hatte. Es riecht nach dem Aftershave von Herrn Steinhauer, der viel zarter aussieht, als sein Name vermuten lässt. Der Bestatter sitzt hemdsärmelig und in Jeans vor den beiden Frauen, in kleinen blauweiß gemusterten Tassen dampft Kaffee. Nadeshda fühlt sich zitterig, Koffein ist ihrem Körper vollkommen unbekannt.

„Natürlich können wir Ihren Herrn Großvater noch einmal aufbahren“, sagt Steinhauer gerade. Tante Sonja schüttelt abwehrend den Kopf. Beim Frühstück in der kleinen Küche hatte Nadeshda schüchtern den Vorschlag gemacht, den Großvater noch einmal im offenen Sarg in der Wohnstube zu betten. „Damit er noch mal nach Hause kann und damit wir uns alle verabschieden können.“ Die Onkel und Tanten hatten durcheinandergeredet, abwehrend mit den Händen gewedelt und die Köpfe geschüttelt. Dennoch hatte Nadeshda es soeben gewagt, die Frage nach einer Aufbahrung hier bei dem freundlichen, duftenden Herrn Steinhauer anzubringen. Aber Tante Sonja wehrte bestimmt ab: „Das wird nicht nötig sein. Bitte lassen Sie uns den Prozess nicht unnötig in die Länge ziehen“.

Nadeshda schämt sich. Sie hat etwas dummes gefragt und der Rest des Gespräches über weitere Formalitäten rauscht an Nadeshda vorbei. In ihr ist es kalt und taub und sie möchte nach Hause. Erst, als die Tante Sonja und Herr Steinhauer aufstehen, um sich die günstigen Sargmodelle anzuschauen, erwacht Nadeshda aus ihrer Betäubung. Sie gehen über den Hof in einen kühlen, von Neonleuchtröhren erhellten Raum, in dem auf Ständern mehrere Särge stehen. „Wir haben zwei Modelle, die in Frage kommen“, erklärt Herr Steinhauer: „Ganz neu unser Sarg aus Zellulose. Leicht, baut sich schnell ab, sehr kostengünstig und für die gewünschte Erdbestattung sehr gut geeignet. Ansonsten“, Herr Steinhauer dreht sich mit ausladender Armbewegung um die eigene Achse: „Hier noch zwei Modelle aus Nadelholz.“ Nadeshda überlässt Tante Sonja das Verhandeln. Ihr ist egal, ob der Großvater einen teuren Sarg bekommt oder nicht. Es hätte ihn nicht gekümmert, da ist sie sich sicher. Er hätte auch nicht gewollt, dass alle Kinder zu seiner Beerdigung erscheinen und sich darüber ereifern, welche Lieder in der Kapelle gesungen werden und welche Blumen als Grabschmuck geeignet sind. Der Großvater war ein Eremit, die einzige Person, die er in seiner Nähe ertragen hatte, war Nadeshda gewesen. Und auch sie hatte Blessuren und Narben davongetragen, weil der alte Mann um sich biss wie ein böse gewordenes Pferd.

Nadeshda tritt auf den Hof, sie braucht etwas frische Luft und möchte dem Neongeflacker entgehen. Unter dem Schleppdach, das die Hälfte des Innenhofes mit dem rissigen Betonboden überspannt, herrscht gedämpftes Licht, aus der Werkstatt nebenan hört sie das Surren und Kreischen einer Schleifmaschine. Durch die vom Holzstaub matten Sprossenfenster der Werkstatttür sieht Nadeshda einen grauen Haarschopf sich auf und ab bewegen. Dann schweigt die Schleifmaschine und Schritte nähern sich der Tür. Hastig geht Nadeshda zurück zu den Särgen, ins Neonlicht.

Nach einer weiteren kurzen Besprechung an Herrn Steinhauers Schreibtisch und einer Unterschrift von Tante Sonja verlassen die Frauen das Bestattungsgeschäft. Im Auto sagt Tante Sonja beim Anschnallen: „Wir kriegen ihn schon gut unter die Erde, mach Dir mal keine Sorgen.“

Ja. Jetzt ist der Großvater klein und leicht geworden und man kann ihn einfach hierhin und dorthin schieben. Er schimpft nicht mehr, er dirigiert nicht mehr. Seine Macht über Nadeshda ist gebrochen und doch umhüllen Furcht und Trauer sie und ein tiefes Sehnen dröhnt in ihrer Brust nach dem Mann, der ihr so lange gesagt hat, was sie tun, ja, was sie fühlen soll.


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