Vierundzwanzig

Als die Sonne um halb sechs endlich aufgeht, hebt Nadeshda müde die Beine aus dem Bett und richtet sich auf. Sie hat wenig geschlafen und viel geweint. Der Großvater ist einfach „friedlich eingeschlafen“, wie es der Krankenpfleger etwas gehetzt am Telefon erklärt hatte. Friedlich. Niemals. Trotzig und wütend, das vielleicht. Nadeshda muss schon wieder schlucken, aber es kommen keine Tränen mehr. Die Onkel und Tanten wird sie bald informieren müssen. Sie haben sich im großen Haus in den Zimmern verteilt und schlafen noch. Sie ahnen nicht, dass das Problem Großvater sich gestern Abend von ganz allein gelöst hat. Nadeshda ist böse auf Alle. Sie hat Angst, denn sie weiß: Die Kinder des alten Mannes wollen mit diesem Leben nichts zu tun haben. Sie werden das Haus verkaufen und Nadeshda wird sehen müssen, wo sie bleibt.

Sie zieht ihre Turnhose und ein verblichenes T-Shirt an und schlüpft in ihre Turnschuhe, ohne die Schnürbänder zu öffnen. Dann geht sie in die Turnhalle unter dem Scheunendach, um der Angst und Traurigkeit ein paar Seilsprünge und Klimmzüge entgegenzusetzen.

Draußen ist es noch kühl, aber die Sonne scheint schon schräg über das Scheunendach. Nadeshda nimmt das schwere Springseil aus Stahldraht und fängt an, zu springen. Sie hüpft von einem Bein auf das andere, das Seil zischt sirrend durch die Luft. Ihr Atem fängt an, schneller zu gehen und ihr geflochtener Zopf wippt auf dem Rücken auf und ab. Sie kreuzt die Arme und hockt die Beine an: Hopp-hopp, zweimal springt sie durch das gekreuzte Seil, dann finden die Beine wieder den normalen Rhythmus. Ihre Gedanken hören auf, zu kreisen, je schneller ihr Atem geht, um so ruhiger wird ihr Herz. Sie beschließt, nur in kleinen Häppchen zu denken. Erst mit den Onkeln und Tanten reden. Dann eine Beerdigung organisieren. Der Großvater soll es fein haben. Mehr, denkt Nadeshda, kann sie gerade nicht tun. Wenn der Großvater unter der Erde ist, wird sich alles auflösen. Nadeshda hat das Gefühl, dass auch ihre Existenz sich auflösen wird. Sie schiebt den Gedanken daran zur Seite.

Dann geht Nadeshda an die Sprossenwand, legt sich auf das schräge Brett und fängt an, Situps zu machen. Pfeifend atmet sie aus, während sie sich mit auf der Brust gekreuzten Armen immer wieder aufsetzt. Sie denkt weiter: Sie möchte keine Hilfe vom Staat beantragen. Sie möchte arbeiten. Der Gedanke ist noch vage und macht Angst, deswegen dimmt sie ihn ganz leise und geht hinüber zum Boxsack. Paff-paff, fliegen ihre Fäuste gegen das Leder. Schnell und präzise sind ihre Bewegungen, die Beine arbeiten tänzelnd mit. Der Großvater soll ein Grab voller Wildblumen haben. Und sie wird ihm Rilke vorlesen. Sie wird tapfer sein.

Liegestütze, Planke, Medizinball. Mit jedem Atemzug verlässt die Panik ein Stückchen mehr Nadeshdas Körper. Sie wird ruhig, obwohl ihr Atem fliegt und der Schweiß ihren Rücken hinunterrinnt. Nach einer Stunde fühlt sie sich stark genug für alles, was nun kommen muss.

Draußen im Hof trifft sie auf Tante Sonja, die die erste Zigarette des Tages raucht. Nadeshda setzt sich neben sie und schweigt. Nach zwei Zügen sagt die Tante: „Er ist tot, nicht?“ „Ja.“, sagt Nadeshda.


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