Zweiundzwanzig

Im Wohnzimmer ist es warm und voll. An diesem kühlen Tag hat Nadeshda ein Feuer im Kamin angezündet, damit die Onkel und Tanten nicht frieren. Sechs Kinder hat der Großvater, mit vieren spricht er nicht mehr. Nun sind sie alle hier und wollen bereden, wie es weitergehen soll mit dem alten, kranken Mann.

Gestern war Nadeshda mit ihrem Onkel Ingolf noch mal im Krankenhaus. Der Großvater lag wie ein Vogelküken in seinem Bett, beatmet, mit Medikamenten versorgt und ohne Bewusstsein. Der freundliche Arzt mit dem blanken Schildchen an der Kitteltasche konnte nichts sagen, außer: „Wir müssen abwarten.“ Dann hatte er mit den Schultern gezuckt und war gegangen.

Nun sitzen sie alle im Wohnzimmer und reden und haben rote Wangen. Der Großvater müsse in ein Pflegeheim, sagen sie. Unverantwortlich sei das, ihn hier zu pflegen. Er hätte längst in eine Einrichtung eingeliefert werden müssen, dann wäre das mit der Treppe nicht passiert. Aber Nadeshda weiß: Der Großvater will hier sein. Und er ist glücklich in seinem Haus und gefallen ist er nur, weil er einen Schlaganfall hatte und seine rechte Körperhälfte ihm nicht mehr gehorchen wollte. Nadeshda möchte es schreien, aber sie kann nicht. Sie fühlt sich klein und schüchtern und sitzt schweigend auf der Kante des Sofas.

„Was wird mit dem Haus, wenn der Alte ins Heim geht?“ fragt Onkel Veith, der Älteste. „Hier ist doch alles Rott!“ Er schaut sich abschätzig um, schaut auf die vielen Bücher des Großvaters, auf gelbliche Wandvertäfelung, auf die maroden Fensterrahmen. „Das ist doch noch gar nicht dran“, sagt Sonja. Die Tante ist aus Mallorca angereist, sie raucht eine Zigarette nach der anderen und ist eine wahre Hilfe für Nadeshda. Sie versteht, dass der Großvater nicht ins Heim will, sie möchte erst einmal abwarten, ob der Vater vielleicht wieder gesund wird. Freya, die Hündin, liegt zu ihren Füßen und schläft. Sie ist glücklich, dass die Herrin zu Besuch ist.

Sie essen Salat und Brot und trinken Wasser dazu, die Teller balancieren sie auf ihren Knien. In der Küche ist nicht genug Platz für alle Geschwister. Nadeshda fasst sich ein Herz. Sie steht auf und sagt: „Ihr wisst, dass Opa hier alles für Euch ausgebaut hat.“ Sie blickt Sonja an: „Er wollte, dass Ihr herkommt und mit ihm hier lebt. Dieses Haus ist sehr wichtig für ihn.“ Nadeshda holt Luft und setzt nach: „Der Doktor heute im Krankenhaus hat gesagt, wir müssen abwarten. Er hat nicht gesagt, dass der Opa sterben wird.“ „Aber selbst, wenn er nicht stirbt: Der Alte wird nie mehr auf die Füße kommen! Er ist 91 Jahre alt! Was erwartet Ihr?“ Veith blickt um sich. Onkel Jasper nickt zustimmend und setzt hinzu: „Das ist doch Wahnsinn, so ein großes Haus für zwei Personen!“ „Aber der Garten!“ Nadeshda fängt an zu weinen. „Er liebt den Garten! Und er kennt die Leute aus dem Dorf! Er will hier nicht weg!“

Sonja legt ihr die Hand aufs Knie und guckt begütigend. „Na, na. Du kannst ihn nicht die Treppen hoch und runter tragen, stimmts?“

Die Geschwister reden hin und her, doch es wird klar: Der Großvater muss gehen. Wird er wieder aufwachen, werden sie ihn in ein Altersheim geben. Er wird zu schwach sein, um die Treppen hinauf in die Wohnung zu bewältigen und Nadeshda wird überfordert sein mit der Pflege eines alten, gelähmten Mannes.

So schwer waren die letzten Monate, so schlimm hat der Großvater geschimpft. Nie konnte sie es ihm recht machen. Nadeshda weint. Was soll aus ihr werden, wenn der Großvater nicht mehr ist? Wo soll sie hingehen? Wer wird ihr sagen, was sie tun soll?

Ingolf und Veith haben sich an den Computer gesetzt, schon gleich wollen sie nach Pflegeheimen in der Umgebung schauen, um dort anzurufen. Der Großvater soll ins Heim.

Das Telefon klingelt. Niemand hört es. Es klingelt und klingelt und wird dann stumm. Später, als Nadeshda mit Freya zur Nachtrunde aufbrechen will, schrillt der Apparat erneut. Sie nimmt ab, hört zu, nickt.

Der Großvater ist gestorben.


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