„Bitte halten Sie den Kopf ein wenig schräg!“ Nadeshda sitzt auf einen Hocker, hinter ihr spannt sich eine graue Leinwand. Ihren Rücken hat sie durchgedrückt und sie spürt, wie sich unter ihren Achseln langsam die Nässe ausbreitet. Unbehaglich und mit steifem Hals legt sie den Kopf etwas zur Seite. Es klickt leise und die Fotografin blickt prüfend auf ihren Bildschirm. Dann schaut sie Nadeshda lächelnd an und sagt: „Warum versuchen Sie denn nicht mal ein Lächeln?“
Warum muss sie jetzt lächeln? Nadeshdas Gedanken gleiten ab. Sie hat sich schon oft gefragt, warum Frauen so oft lächeln. Selbst, wenn Tante Sonja etwas unfreundliches oder gemeines sagt, lächelt sie. Wenn die Nachbarin von Tolstes Bauernhof auf einen Plausch stehen bleibt, schickt sie nach jedem Satz ein Lachen in die Luft. Fast entschuldigend klingt das, und Nadeshda findet es schrecklich irritierend. Sie kann nicht so oft lachen. Nur, wenn etwas wirklich lustig ist oder wenn Freya komische Sachen macht, dann lacht sie aus vollem Herzen.
Die Stille im Foto-Atelier wird ungemütlich und Nadeshda räuspert sich. „Ähm, ich möchte lieber ein ernstes Foto“, bittet sie und die Fotografin lacht amüsiert auf. „Na, wie Sie möchten. Dann schauen Sie bitte zu mir. Und den Kopf etwas schräg, bitte.“
Als Nadeshda den Laden verlässt, hat sie ein weißes Heftchen mit vier Fotografien in der Hand. Sie möchte sich eine Arbeit suchen, ein paar Stunden nur. Der Großvater hätte sicher nichts dagegen, wenn sie etwas nützliches tut. Sie möchte im Bio-Laden an der Landstraße fragen oder vielleicht im Kindergarten in Clenze. Auf Kinder aufpassen, ja, das wäre nett. Vielleicht könnte sie ein bisschen Geld verdienen und so in die Haushaltskasse einzahlen.
Zu Hause setzt sich sich an den abgeschabten Küchentisch und schreibt: Geboren im Mai 2000, Abitur in Stuttgart. Pflege des Großvaters. Hobby Sport. Sie schaut an die Küchenwand mit den vielen Fotografien. Viel ist das nicht. Sie denkt nach und formuliert: „Ich bin freundlich und kann sehr gut mit Menschen umgehen.“ Sie blickt wieder auf. Stimmt das? Eigentlich machen Menschen ihr oft Angst. Sie versteht ihre Beweggründe nicht und oft hat sie das Gefühl, dass ihre Mitmenschen geheime Verhaltenskodizi beherrschen, von denen sie nichts weiß. Als hätten sich alle hinter ihrem Rücken abgesprochen, als würden alle Anderen das zu Hause oder in der Schule lernen. Warum man dies nicht sagt oder jenes unbedingt erwähnen muss. Wann man lächelt und wann man besser schweigt. Hier, beim Großvater, da ist Nadeshda sicher. Das bisschen Schimpfen, das kann sie gut aushalten und hier kann sie sie selbst sein.
Traurig lässt sie den Stift fallen. Was, wenn der Großvater wirklich nicht zurück kommt? In der Diele klingelt schon wieder das Telefon und Nadeshda durchzuckt es. Sicher ist das wieder das Pflegeheim. Oder das Krankenhaus oder Tante Sonja, die auf sie einreden will. Morgen wird sie noch einmal mit den Verwandten sprechen und wird sich überlegen, wie sie den Großvater hier pflegen kann. Dann kommt ihr ein Gedanke, der sie hoffnungsfroh macht. In Clenze hat ein neuer Arzt seine Praxis eröffnet, Peet hat erzählt, dass er freundlich und aufgeschlossen ist. Sie wird ihn gleich anrufen. Hastig springt sie auf und setzt sich vor den Computer. Sie gibt „Allgemeinarzt“ und „Clenze“ in die Suchmaschine ein und prompt spuckt der Computer ihr ein paar Telefonnumer aus. Da. Christian Teufel. Das muss er sein.
Nadeshda notiert die Nummer auf einem Zettel und läuft in die Diele. Sie wählt, wartet und dann sagt sie: „Guten Tag, ich rufe wegen meines Großvaters an.“ Der Arzt, verspricht man ihr, wird zurückrufen. Sie nennt ihre Telefonnummer und legt auf. Dann läuft sie in ihr Zimmer und sucht ihre Sporthose aus dem Schrank. Sie will trainieren gehen und dann eine lange Runde mit Freya durch die Wiesen laufen. Hoffnung. Es gibt Hoffnung. Nadeshdas Herz ist leicht und die Sonne scheint durch das Gaubenfenster in die Zimmer.