Hier hat sich der Winter versteckt, denkt Nadeshda, als sie neben Tante Sonja an der Schwelle der Friedhofskapelle steht. Ein kalter Hauch weht ihr entgegen, ein Geruch nach welkem Laub und nach Staub, durch den kleine Füße gelaufen sind.
Vor der Kappelle ist ein Tischchen mit einem Strauß Narzissen und dem aufgeschlagenen Kondolenzbuch aufgebaut. Ein Mitarbeiter steht daneben und versteckt hastig seine Zigarette, als Tante Sonja streng schaut.
Vorn in dem kühlen Raum steht schon der Sarg vom Großvater und ein Bild von ihm, auf dem er ernst auf die Welt schaut. Einige Männer vom Beerdigungsinstitut scheinen mit dem Mikrofon beschäftigt zu sein und am Boden kniet ein Mitarbeiter von Herrn Steinhauer, der nach und nach alle Kerzen anknipst. Als er sich aufrichtet, sieht Nadeshda, wie schlaksig er ist. Seine grauen Haare stehen etwas pietätlos vom Kopf ab. Seine Erscheinung wirkt tröstlich auf Nadeshda, die sich klein fühlt und verloren. Sie hat sich einen Pullover von Onkel Veith geliehen und trägt eine Bluse und ihre gute schwarze Hose. Der Großvater würde über ihr Schuhwerk schimpfen, aber das ist nicht schlimm.
Als der Kerzenmann sich umdreht, treffen sich ihre Blicke und Nadeshda muss sich schnell abwenden, weil sie plötzlich das Gefühl hat, schon wieder in Tränen ausbrechen zu müssen. Dabei hatte sie gedacht, sie sei ganz leergeweint.
Tante Sonja zieht sie nach vorn, auf die erste Bank. Voll wird es nicht werden, der Großvater hatte keine Freunde. Aber ein paar Leute aus dem Dorf sind gekommen, sie schütteln Tante Sonja die Hand und legen den Arm tröstend um Nadeshda. Die Onkel und Tanten haben sich ganz vorn ausgebreitet und Onkel Veith redet mit der Pastorin, bevor der schlaksige Kerzenmann zu einem CD-Player geht und auf einen Knopf drückt. Ein Choral scheppert in der kalten Kapellenluft und der Kerzenmann geht gemessenen Schrittes durch den Mittelgang nach draußen und schließt leise die schwere Holztür hinter sich.
Nadeshda versteht nichts von dem, was die Pastorin sagt. Sie sitzt da und friert und möchte zum Großvater. Um sie herum und in ihr drin sind Kälte und Einsamkeit, die sie so sehr fühlt, dass es ihr körperlich weh tut. Ihr war nicht klar, dass Trauer Schmerzen macht und nun weiß sie es. Der Duft der Frühblüher steigt ihr in die Nase. Fresien duften süß und stark und Nadeshda muss plötzlich aufstehen und aus der Kapelle laufen.
Draußen stehen die Männer beisammen. Sie reden leise und rauchen. Der Kerzenmann schaut fragend, als Nadeshda aus der Kapelle kommt und sie kann nicht anders, als zu einem kleinen, rundlichen Mann mit Zigarette gehen und bittend die Hand ausstrecken. „Zigarette?“ fragt er zweifelnd. Nadeshda nickt. Er reicht sie ihr, hält inne und nimmt sie dann zurück. Janko zündet die Zigarette für Nadeshda mit einem tiefen Zug an und dann raucht sie den Mäusegeruch, die Kälte und den Blumenduft hinfort. Sie atmet ein und ihre Bronchien wehren sich wütend gegen die graue Luft. Aber Nadeshda beherrscht ihren Körper. Sie hustet einmal kurz, dann atmet sie lang ein. Und dann aus. „Danke“, sagt sie, und die Männer lächeln.